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In der Sinnforschung – u. a. an der Uni Innsbruck durch Prof. Tatjana Schnell – wird seit längerer Zeit akademisch darüber nachgedacht, welche Lebensbereiche, Motivatoren und Kompetenzen als Sinnquellen für uns Menschen bedeutsam sein könnten. Vor gut zehn Jahren hatte man die wichtigsten zusammengetragen: Insgesamt 26 „Lebensbedeutungen“, die je nach Intensität und Präsenz sinnstiftend oder sinnneutral sind. Oder anders gesagt: „Was gibt meinem Leben einen Sinn?“ oder: „Was macht mich trotzdem glücklich?“ Ich will versuchen, die einzelnen Bedeutungen auf die reife, vor dem (oder auch schon im) Ruhestand stehende Generation der Babyboomer zu adaptieren …

Grafik: Wolfgang Schiele

Schauen wir uns jetzt die Lebensbedeutungen an, die unsere SELBSTTRANSZENDENZ ausmachen. Was nun versteht man unter Selbst-Transzendenz? Nach Viktor Frankl, dem Entwickler der Existenzanalayse und Logotherapie, ist Selbsttranszendenz „der grundlegende anthropologische Tatbestand, daß Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache – oder in der Liebe zu einer anderen Person … ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergißt.“ Oder auch seine persönlichen Grenzen überschreitet.

Die SELBSTTRANSZENDENZ gliedert sich in zwei Untergruppen: die vertikale und die horizontale. Für die vertikale Selbsttranszendenz stehen die Lebensbedeutungen explizite Religiosität und Spiritualität, für die horizontale Selbsttranszendenz das soziale Engagement, die Naturverbundenheit, die Gesundheit, die Generativität und die Selbsterkenntnis zur Verfügung.

* Wenn ich zurückdenke an die letzten Lebensjahre meiner Großmutter, die bis dahin immer eine militante Atheistin war, dann bin ich immer noch über ihre späte Hinwendung zum Gottesglauben verwundert. Vielleicht sah sie in der Religion eine abschließende Erleuchtung, einen Sinn in der Anerkennung einer höheren, dem Menschen übermächtigen Kraft. Oder sie wollte noch eine Art Absolution erhalten, um in einem Leben danach auf der sicheren Seite zu sein. Es kann aber auch sein, dass sie auf der Suche nach der Quelle der Schöpfung eher eine ganz persönliche Beziehung aufbauen wollte, die sie an einer ganzheitlichen, nicht immer erklär- und beweisbaren Realität festmachte. Bei einigen Menschen brechen wohl Demut und Ehrfurcht vor dem Größeren, Transzendenten und Unerklärlichen erst spät im Leben durch und/oder sie leben ihre ganz persönliche explizite Religiosität aus der Angst vor dem Tod.

* Unweit der Religiosität liegt des Reich der Spiritualität. Auch die Leugnung der sinnlichen Fassbarkeit und Erklärbarkeit des Universums kann Sinn machen. Es wird immer wieder Phänomene und Ereignisse in unserer Welt geben, die sich aktuell nicht durch wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse oder empirische Daten- und Informationssammlungen deuten und beschreiben lassen. Dann schließen wir die Lücke zwischen absoluter Gewissheit und grenzenloser Unsicherheit durch eine weltanschauliche Alternative, in der es Erscheinungen, Rätsel und Wunder gibt, die wir als Dogma, als letztendliche Direktive hinnehmen und akzeptieren. Wer nicht vordergründig an sich selbst und seine Fähigkeiten zur Veränderung der Welt und seines Lebens glaubt, wer Gestaltungsskeptiker seiner eigenen Existenz ist, der sieht einen Sinn im Wechsel zum Lager der Schicksalsgläubigen – und wird damit sogar glücklich.

* Das soziale Engagement entwickelt sich nach meinen Erfahrungen mit fortschreitendem Alter. In der sog. „autoritär-sozialen“ Lebensphase, etwa zwischen dem 50. und dem 70. Lebensjahr, engagieren sich immer mehr Menschen ehrenamtlich oder in gemeinnützigen Organisationen. Sie haben ihre Existenz weitgehend gesichtert, die Kindererziehung zumeist abgschlossen und die wichtigsten Entscheidungen in ihrem Leben getroffen und auch umgesetzt. Viele engagieren sich aus der Überzeugung heraus, der Gesellschaft, ihren Mitmenschen, etwas von dem zurückzugeben, was sie früher erhalten haben. Es entsteht eine Art Solidarität mit oftmals gleichaltrigen Menschen, die sie mit ihrer Kraft und Erfahrung unterstützen und voranbringen möchten. Dabei spielt die unentgeltliche und selbstlose Hilfe eine herausragende Rolle. Das soziale Engegament wirkt auf den uneigennützig Leistenden positiv zurück – die sog. „Positivitätsresonanz“ (Dirk W. Eilert) ist das innere Antwortgefühl, das sich in uns ausbreitet, wenn wir anderen Menschen etwas Gutes getan haben.

* Als „mitbetroffener“ Ruheständler beobachte ich, dass sich vor allem ältere Menschen gern und immer öfter in der Natur aufhalten. In einer Phase, in der wir selbst bald wieder zum leblosen Bestandteil der Schöpfung werden, möchten wir mit allen Sinnen im Einklang mit der Natur leben und aus ihr unsere späte Kraft schöpfen. Da wir keinen beruflichen Zwängen mehr unterliegen, können wir die Natur so oft wie möglich und unbefangen erleben und uns obendrein ihre gesundheitsfördernden Wohltaten gönnen! Als Geschöpf, das vor Tausenden von Jahren entwicklungsgeschichtlich der Natur entsprungen ist, sind wir noch heute in der Lage, die heilende Wirkung von natürlichen Stoffen zu nutzen und seelische Entspannung und Stressabbau zu erleben. Je intensiver wir Naturverbundenheit leben, desto mehr verstehen wir auch die großen Zusammenhänge in der Welt, die sich nicht immer und alle durch unser Schulwissen und unsere Berufsweisheiten erklären lassen. Vielleicht verstehen wir auch erst in der Natur wirklich den Sinn des Lebens …

* Zentrale Bedeutung, insbesondere im fortgeschrittenen Alter, kommt der Gesundheit zu. Neben den alterstypischen Veränderungen, denen wir unterliegen (Nachlassen der Leistungsfähigkeit, langsamer werdende Auffassungsgabe, entspannter Umgang mit der Ressource Zeit …) werden unsere Handlungen mehr und mehr eingeschränkt durch körperliche Krankheiten und psychische Störungen. Zwar unterstützt uns ein fortgeschrittenes Gesundheitswesen, doch wir selbst sind angehalten, unseren persönlichen Beitrag zur Gesunderhaltung und Gesundung zu leisten. Dazu gehören viel Bewegung, möglichst an der frischen Luft, eine ausgewogene Ernährung und der achtsame Umgang mit dem eigenen Körper. Aber auch der Erhalt der geistigen Fitness zählt dazu, denn es ist wissenschftlich gut belegt, dass Menschen, die ihrem Gehirn auch nach dem Berufsausstieg anspruchsvolle Aufgaben stellen, eine höhere Lebenserwartung haben. Und eine dritte Komponente gehört neben Geist und Körper dazu: das, was wir unsere Seele nennen. Die wohlwollende Befassung mit dem eigenen ich, die positive Selbstreflexion des bereits vertrichenen Lebens sind Mittel, psychisch gestärkt und glücklich auch durch die dritte Lebensphase zu gehen. Fazit: Es macht sehr viel Sinn, sich aktiv um seine Gesundheit zu kümmern.

* Da wir unsere Erkenntniswelt nach dem Tode nicht mehr selbst nutzen können, möchten wir im fortgeschrittenen Alter unser Wissen, unsere Fähigkeiten und unsere Erfahrungen gern weitergeben an die nachfolgenden Generationen. Daraus schöpfen wir in der Regel Glücksgefühle und ein spätes Sinnverständnis für Menschen, die uns in der Zeit nachfolgen. Den meisten Menschen wohnt der Drang inne, Dinge von bleibendem Wert zu schaffen, Spuren zu hinterlassen. Die Generativität ist eine „menschliche Fähigkeit, individuell bzw. kollektiv um das gegenseitige Angewiesensein der unterschiedlichen Generationen zu wissen, dies als individuelle bzw. kollektive Verantwortung aufzufassen und im individuellen bzw. kollektiven Denken und Handeln zu berücksichtigen.“ (wikipedia). Generatives Denken und Tun ist ein Ausdruck von Sorge und Verantwortung aller zeitgleich existierenden Menschen verschiedenster Jahrgänge untereinander. Durch die erhöhte Lebenserwartung wohnen mittlerweile bis zu fünf Generationen unter einem Dach (Stichwort: Mehrgenerationenhäuser). In den Unternehmen ringen die Babyboomer und die Generationen „Y“ und „Z“ bei der Bewältigung von Arbeitsaufgaben um gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Diesem Umstand kommt eine besondere Bedeutung in einer Zeit zu, in der sich die Generationen durch den rasanten technischen Fortschritt auseinanderbewegen und die Verständigung in Alltag und Beruf immer schwieriger zu werden scheint. Wenn es dennoch zu gegenseitig befruchtendem Austausch kommt, erfüllt sich der Sinn von Generativität.

* Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis einer Person über das eigene Ich, über seine Individualität, seine bewusst gelebte Existenz. Zu Selbsterkenntnissen gelangen wir durch das Nachdenken, das Reflektieren über unsere Person, unseren Lebensweg, unsere Handlungen. Uns selbst zu erkennen kann zu positiven oder negativen Ergebnissen führen. In der Erkenntnis, dass das Leben nur nach vorn und niemals zurück gelebt wird, sollten wir den durchschrittenen Lebensweg wohlwollend betrachten und nicht in Zorn über vermeintlich falsche Entscheidungen oder Wehmut und Trauer über Ungetanes verfallen. Die Vergangenheit als objektive Realität ist nicht veränderbar; sie ist aber anders interpretierbar und kann aus verschiedenen, nun im Alter reifen Blickwinkeln, neu gesehen werden. Wie sagte schon Milton H. Erickson: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.“ Was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass wir uns im Ruhestand ein neues Verständnis darüber verschaffen können, warum die Dinge früher so und nicht anders verlaufen sind und wir uns heute als erwachsene, lebenskluge, abgeklärte und gelassene Menschen akzeptieren und lieben können. Positive Selbsterkenntnis ist eine gute Basis für ein glückliches und sinnvolles Leben im Alter.

Neben dem vorliegenden Teil der „Sinnquellen für´s Alter(n)“ gibt es noch den Teil 1, der sich mit der SELBSTVERWIRKLICHUNG befasst (siehe auch https://wp.me/p7Pnay-2JI), und demnächst den dritten Teil, der zu den Gruppen ORDNUNG und WIR- und WOHLGEFÜHL weitere 11 Lebensbedeutungen bespricht.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de