
Mit der Aufklärung kam die moderne Wissenschaft und sagte einer Welt der Religion und der Spiritualität den Kampf an. Sie wollte ein für alle Mal aufräumen mit esoterischen, theologischen, irrationalen und spirituellen Welterklärungen. Nach den vermeintlich dunklen Zeiten des Mittelalters sorgte die Aufklärung für eine wissenschaftliche Betrachtung der Welt. Sie legte sich ein Handwerkszeug zu, das die den Menschen umgebenden Dinge der Welt beobachtete und registrierte, analysierte und synthetisierte, hypothesierte und methodizierte, kausalisierte, korrelierte, ordnete – und vor allem rationalisierte: im Sinne von wohlbegründet, nachvollziehbar und vernünftig. Man kann auch sagen, die moderne Wissenschaft machte dem Menschen die Welt verständlich und nachvollziehbar – ohne sie durch eine allesbeherrschende Gotteskraft zu begründen. Sie nahm der Welt allerdings auch einen Teil ihrer Magie und ihres Zaubers. Und sie stahl vielen Menschen den Sinn, den sie bisher ausschließlich mit einer transzendenten Macht in Verbindung gebracht hatten. Mit zunehmenden Erkundungen, Erfahrungen und Erkenntnissen setzte die Wissenschaft die Vernunft an die erste Stelle menschlichen Strebens und begann mehr und mehr die „Unvernunft“ der Vergangenheit durch Erklärungsmodelle außerhalb eines religiösen oder spirituellen Geistesrahmens zu ersetzen.
Doch viele Menschen hingen an gottgewollten Beschreibungen von der Welt und sahen darin ihren Lebenszweck. Es fiel ihnen schwer, sich selbst und die Welt – als von der Natur geschaffen und mit Gesetzmäßigkeiten ausgestattet – zu verstehen. Gern wollten sie die Sicherheiten des religiösen Dogmas zurück haben. Die Macht der Wissenschaft aber setzte sich Schritt für Schritt durch, und so blieb den Menschen nur, auf eine Koexistenz zwischen dem Rationalen und der göttlichen Schöpferidee zu setzen. Trotz allen neuen Wissens hatten die Menschen in der Zeit der darauffolgenden Romantik jedoch das untrügliche Gefühl, Religion und Wissenschaft – ob allein oder gemeinsam – böten nicht das wahre Potenzial zur Beschreibung des Menschseins. Es fehlte ihnen eine weitere Komponente, die von Sehnsucht, Poesie und alter Sicherheit eines Kaiserreiches geprägt sein sollte. Und damit begann die Zeit der Auflehnung und der Verklärung, die sich gegen eine begrenzende und einengende Denk- und Weltsicht wandte. Die Menschen bauten sich Traumwelten auf, die Poesie wurde zum Treiber der Sehnsüchte außerhalb der Vernunft und neben ihr. Und damit begann ein Prozess, der sich bis heute fortsetzt und sich in einer Art Skeptizismus, Unvernunft und letztlich auch Wissenschaftsfeindlichkeit manifestiert.
Machen wir uns nichts vor: Eine Welt, die ausschließlich von der Wissenschaft geprägt ist, ist langweilig, eintönig, frustrierend – eine Spaßbremse, die das ganze Leben vermiesen, wenn nicht sogar sinnlos machen kann (wir merken das heute tagtäglich an den Verkündigungen zu den Eigenheiten einer nicht enden wollenden Coronapandemie …). Es ist einerseits eine nackte und poesiefreie, andererseits eine bedürfnisfremde und frustrierende Welt, die die Wissenschaft aus sich heraus hervorbringt. Wie kann das Leben Spaß machen, wenn ich den Drogen entsagen muss, weil die Medizin deren Schädlichkeit für den menschlichen Körper festgestellt hat? Wie kann das Leben einen Sinn machen, wenn ich keinen großen SUV fahren soll, „nur“ weil die Wissenschaft den apokalyptischen Untergang der Welt durch Kohlendioxidüberflutung vorhergesagt hat? Wo bleibt meine tiefe innere Befriedigung beim Genuss von Süßem und Fettem, wenn der Mediziner vor Diabetes warnt oder gar mit ihr droht? Sigmund Freud bezeichnete einst die Wissenschaft als die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip. Und so spricht auch der Soziologe Max Weber von einer Weltentzauberung und meint, dass „Menschen unterm kalten Neonlicht der reinen Rationalität nicht dauerhaft gedeihen könnten“. Oder anders gesagt: Ein Leben ausschließlich nach den Regeln der Wissenschaft gelebt ist zwar möglich, aber trocken, fade und hoffnungslos.
Wenn der Mensch seine Bedürfnisse nicht befriedigt, dann ist er früher oder später nicht nur ungehalten, sondern kann auch davon krank werden. Die Verweigerung des Unvernünftigen kann zu Depressionen führen. Denn die Befriedigung von Bedürfnissen ist ein Menschenrecht, seien diese auch noch so wissenschaftsfremd. Oder anders gesagt, wir alle haben ein Recht auf Irrationalismus, auf Unvernunft. Und es gibt nicht wenige Philosophen, die einer ausschließlich wissenschaftlich geprägten Welt kritisch gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür ist Ken Wilber, der mit seiner Integralen Philosophie weitere Aspekte in das klassische Weltbild einbringt. Er betrachtet sich als eine Art Vorkämpfer der integralen Idee, die westliche Wissenschaftsströmungen mit fernöstlichem Erkenntnissen fusioniert, eine übergreifende Betrachtung von Meditation und Mystik anregt und all die Erfahrungen von Gelehrtheit, Religion und Naturphilosophie zusammenführen will. Bei ihm besteht die moderne Wissenschaft hauptsächlich aus Form und Oberfläche, beruht auf äußerlich individuellen und äußerlich kollektiven Aspekten.

Das Ganze bezeichnet er u. a. in seinem Buch „Eine kurze Geschichte des Kosmos“ als „Flachland“. Doch darüber hinaus besteht die Welt der Erkenntnis für ihn auch noch aus den Dingen, die sich unter der Oberfläche und im Unbewussten befinden, und sowohl innerlich individuellen als auch innerlich kollektiven Charakter besitzen. Seine 4-Quadrantenwelt besteht aus
1. dem denkenden Geist oder Verstand,
2. dem materiellen Universum,
3. dem transzendenten Geist als höchste Allmacht und
4. der holistischen Gesamtheit von Materie, Geist und Kosmos.
Und in diesem Gedankenmodell verbirgt sich auch die Facette des Irrationalismus, der zu uns als Menschen in unterschiedlichster Ausprägung dazugehört. Eine Unvernunft, eine Absurdität, die uns in „Friedenszeiten“ zu größtem Hochgenuss verhelfen, aber in Krisenzeiten auch in ein unlösbares Dilemma stürzen kann. Mit dem Wilberschem Verständnis für ein Weltbild, das weit über die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnishorizonte reicht, sollte es uns zumindest möglich sein, Gegenpositionen einzunehmen und Alternativargumente zur reinen Wissenslehre zu entwickeln. Und es sollte uns gelingen, den Irrationalismus, die menschliche Unvernunft als legitime Strömung zu akzeptieren, auch wenn sie auf den ersten Blick mit moderner Wissenschaft nicht zu vereinbaren ist. Das würde uns allen das Leben erträglicher und befriedeter machen. Und ganz nebenbei hätten wir auch noch ein wenig Spaß und weniger Frustrationen.
Weil es so prima passt, abschließend noch ein Zitat von George Bernard Shaw, dem irischen Dramatiker und Buchautor:
„Der Vernünftige passt sich der Welt an: Der Unvernünftige versucht immer wieder, die Welt an sich anzupassen. Deshalb hängt jeder Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.“
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
20. Januar 2022 at 17:21
Wie recht doch George Bernard Shaw mit seinem Zitat hat …
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20. Januar 2022 at 16:17
Eindeutig unvernünftig bin ich.
Immer wieder DANKE für Ihre interessanten Ausführungen. Sie zwingen mich ab und zu, vernünftig zu denken!
Gruß von der Wildgans-Sonja
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