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Für den Weiterbestand der Menschheit bedarf es nicht wirklich einer Sinnfindung – sie wird als Spezies auch überleben, wenn deren Individuen keinen Lebenszweck verfolgen, keine Mission in sich spüren oder sich keinem abstrakten Großen und Ganzen unterwerfen. Das Universum hat für uns nicht wirklich Verwendung. Es gibt uns keine Sinnbestimmung vor, drängt uns nicht zur Sinnsuche. Die Welt verhält sich uns gegenüber völlig gleichgültig. Außerhalb unseres Bewusstseins macht sie keinen Sinn. Unser Treiben ist für die Natur ohne existenziellen Informations- oder Entwicklungswert – sie, die Natur, wird es in irgendeiner bedeutungsfreien und ergebnisoffenen Form immer geben, ohne auf eine spezielle Lebensform angewiesen zu sein oder deren Einfluss als bedrohlich betrachten zu müssen.

Da wir nun aber schon einmal da sind und uns selbst erkennen, reflektieren und sozialisieren, geraten wir in eine Zwickmühle: „Warum – oder besser: Wozu sind wir da?“ Individuelle Sinnsuche ist aus evolutionärer Sicht bedeutungslos. In der Natur geht es um Selbsterhaltung, Fortpflanzung und Optimierung – kurz, ums Überleben. Für die biologische Robustheit und den Arterhalt wird kein Selbstbewusstsein benötigt, und erst recht werden keine Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Warum und Wozu, dem Wieso und Wofür gestellt. Somit befindet sich das soziale Wesen Mensch, wie oben angedeutet, in einem Dilemma. Ja zum Sinn sagen – oder einfach nur leben. Aber selbst diese Entscheidung wird uns nicht von der Schöpfung abgenommen. Wir müssen selbst bestimmen, ob wir unserem Leben einen Zielzweck verleihen wollen, einen tieferen Sinn geben möchten oder einfach nur unsere Existenz als Kreatur verteidigen wollen. Es ist schon paradox, dass der Mensch etwas über das eigene Bewusstsein Hinausgehende ersonnen und entwickelt hat, dass er transzendent (also im Wortsinne: sich selbst übertreffend) leben will und sein Tun und Handeln einem größeren Ganzen, einer erfahrungsüberschreitenden, oftmals abstrakten Sache widmen oder sogar unterordnen will. Denn auf den ersten Blick macht ihn das im Kontext mit der Natur nicht erfolgreicher.

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Wie sagte der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche einst: „Alles Entscheidende entsteht trotzdem.“ Vielleicht ist der Sinn das „Entscheidende“, das trotzdem entsteht – nämlich eine Größe, eine Kategorie der bewussten Abgrenzung, die es zwingend braucht, um sich signifikant von anderen Lebensformen zu unterscheiden. Die Entscheidung für ein sinnerfülltes Leben bedarf nach Tatjana Schnell einiger Voraussetzungen. An erster Stelle steht das Bestreben, einen Platz in einer oder mehreren sozialen Gruppen zu besetzen und ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Dann kommt es auf die Ausrichtung des Lebens an – dabei geht es um selbstgewählte Aufgaben, Ziele oder Visionen, für die es sich nachdrücklich zu leben und zu streiten lohnt. Eine dritte Bedingung ist das Verständnis für eine kohärente, in sich stimmige Welt; die Überzeugung, dass man die Welt verstehen und sie modellieren kann. Und last but not least wird Sinnhaftigkeit nur dann entstehen können, wenn eigenes Handeln auf Resonanz stößt und ein Gefühl der individuellen Selbstwirksamkeit aufkommt.

Menschen in weit zurückliegenden Generationen verfügten schon dadurch, dass sie durch die Religion verbunden waren, über ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl. Die Gemeinschaft wurde beherrscht durch eine zentrale Institution des Gewissens und der Demut, die die individuelle Weiterexistenz zumindest der Seele nach dem körperlichen Tod bei Einhaltung bestimmter Regeln garantierte. Sinn war in gewisser Weise bereits als gemeineigen vorgegeben und musste nicht individuell aufgespürt werden. Das hatte etwas Entlastendes. Doch mit der Zeit der Aufklärung kamen Zweifel am Gottgegebenen auf – und aus der Befreiung von der Sinnsuche entwickelte sich die Notwendigkeit zur Bestimmung eines ganz persönlichen Lebenssinns. Auch mussten sich die Menschen selbst ausrichten im und am Leben, mussten für sich neue Lebenskonzepte und Gedanken der Ungebundenheit entwickeln – die Orientierung an einer festen Vorgabegröße göttlicher Sinnstiftung wurde obsolet. Es erforderte Mut und Ideen, für sich einen außerhalb des Glaubens liegenden Lebenszweck zu definieren. Schauen wir uns heute um, so fällt es vielen von uns auch schwer, diese Welt als in sich stimmige Ordnung und kohärente Einheit zu verstehen. Die ungeheure Rasanz des Wandels, die besorgniserregende Unvorhersehbarkeit von Ereignissen, die gewaltige Komplexität der Welt und die hilflos machende Mehrdeutigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen verstellen allzu oft die Sicht auf unsere mögliche Rolle und Mission in dieser sog. „VUCA-Welt“. Der Zukunftsforscher Jamais Cascio geht sogar einen Schritt weiter. Er verortet unser Dasein bereits im „Age of Chaos“, einer Sphäre, die er BANI-Welt nennt: brüchig (brittle), angstauslösend (anxious), nichtlinear (nonlinear) und irrational. Und auch mit unserer Selbstwirksamkeit ist es nicht mehr weit her: Unsere individuellen Möglichkeiten, messbar auf den Gang der Dinge einzuwirken, scheinen in dieser weitgehend von Eliten gesteuerten Welt enorm eingeschränkt und wirken eher rat- und hilflos.

Es ist also nicht leicht, sich bei diesem Zustand der Sinnvoraussetzungen nach Tatjana Schnell auf die Sinnsuche zu begeben. Aber es kann sich lohnen, wenn man trotz oder gerade wegen dieser Widerstände und Hürden für seine innere Welt lebt, sie wertschätzend weiterentwickelt und dann doch noch einen Stimulus für das eigene Wofür und Wohin findet … Z. B. dann, wenn man sich einiger Werte erinnert oder Kompetenzen nutzt, die das „BANI-Prinzip“ entmachten können. Für das B stünde beispielhaft die eigene Belastbarkeit, die man trainieren könnte, dem A entspräche vielleicht die Achtsamkeit, die man pflegen und ausprägen sollte, dem N täte die Rückbesinnung auf die Wunder und Schönheiten der Natur sehr gut und für das I würden Intuition und Innovativität des Menschen in die Bresche springen. Wer sich dieser Fähigkeiten besinnt uns sie (weiter-)entwickelt, wird auch unter den miesesten Bedingungen einen Lebenssinn finden können – sofern er denn will.

PS: Wer weitere Beiträge zum Thema Lebenssinn in diesem Blog sucht, wird z. B. fündig unter https://wp.me/p7Pnay-3Be („Ich glaub´, ich hab meinen Lebenssinn schon hinter mir …“).

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

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