oder: Wie ich beruflichen Suizid beging
Jeder Verlust ist psychologisch gesehen ein Trauerfall …
… das leuchtet sofort ein, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Und auch ein Gegenstand, den man verlegt oder verloren und an den man sehr viele Dinge aus der Vergangenheit festgemacht hat, ist ein Verlust mit traurig machendem Hintergrund. Und die Psychologie weiß, dass man den Verlust verarbeiten soll, indem man Trauerarbeit leisten möge. Ganz individuell und auf die Schwere des Verlustes bezogen. Ansonsten können gesundheitliche Schäden die Folge sein: depressive Reaktionen, Anpassungsprobleme und selbst Depressionen – eben ernsthafte seelische Verletzungen mit Krankheitswert.
Abschied ohne Übergabe
Vor gut vier Jahren bahnte sich für mich auch ein Verlust an: der Verlust meines Berufes, oder besser gesagt: meiner mehr als vierzig jährigen Beschäftigung in einem Beruf. Das wurde mir erst so richtig bewusst, als der Zeitpunkt immer näher rückte und ich – den Vorgaben des Unternehmens folgend – meine beruflich erschaffenen Arbeitsergebnisse zu ordnen hatte. Kurz vor dem Übergang in die passive Altersteilzeit stellte sich heraus, dass es keine Nachfolgebesetzung für meine Funktion geben würde. Das war schon bitter: auf dem Höhepunkt der jahrelang angesammelten Fähigkeiten angelangt, mit einem umfangreichen informationellen Wissen ausgestattet und mit speziellen fachlichen Kompetenzen versehen gab es niemanden, dem ich meine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen übergeben konnte. Generativität zu praktizieren – die Weitergabe erworbenen Spezialwissens an nachfolgende Generationen – war nicht möglich. Es gibt ein Sprichwort, das sagt: „Wenn ein Greis stirbt, dann brennt eine ganze Bibliothek ab.“ Mir wurde langsam klar, was genau es mit dieser Metapher auf sich hatte …
Mir blieb also nichts anderes übrig, als pflichtgemäß den reglementierten Teil meines fachlichen Wissens im digitalen Archiv des Unternehmens abzulegen. Blieben noch geschätzte 98% übrig. Und da ich meinen Rechner „sauber“ an die zuständige IT-Abteilung zu übergeben hatte, begann ich mit dem Löschen von Dateien auf dem selbigen. Es waren bestimmt zwischen 1,5 und 2 Terabyte Daten. Ich begann bei den ältesten Dateien und besuchte Ordner für Ordner, klickte mal in die eine, mal in die andere Datei hinein und durchlief so meine fachhistorische Entwicklung durch die verschiedenen Abteilungen meines Arbeitgebers. Und dann löschte ich die virtuellen Arbeitsergebnisse und Erfahrungen, erst langsam und dann immer schneller. Zuerst ein paar Dutzend und dann ein paar hundert Dateien pro Tag. Es war, als ob ich im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Löschen der Dateien mein eigenes Berufsleben auslöschte: Schritt für Schritt und unaufhaltsam. Ich schaffte mich beruflich ab! Fast jeder atomisierte Ordner verursachte in mir ein Gefühl der Trauer und Sinnlosigkeit. Neben der formalen „Entbeschäftigung“ durch meinen Arbeitgeber beging ich auf diesem Weg ungewollt meinen virtuellen beruflichen Suizid …
Bewältigungsstrategie(n) entwickeln
Trauerarbeit, den Umgang mit Verlusten, kann man auf sehr verschiedene Art und Weise vollziehen. Um dem Schmerz der eigenen „Auslöschung“ entgegen zu treten und ihn zu lindern, kam mir eine Idee: Ich legte ein Tagebuch der letzten zehn Arbeitstage an. Und schrieb jeden Tag auf, welche Emotionen mich konkret bewegten und welche Gedanken mir beim Weg bis zum abschließenden Berufsausstieg in den Sinn kamen. Und mit welchen Menschen ich zusammentraf und wie sie über sich, über mich und den zukünftigen Abschied vom Beruf dachten. So schaffte ich einen Ausgleich zur Löscharbeit und hatte ein Medium zur Hand, das geduldig und selbstreflektierend eine gezielte Trennungsverarbeitung ermöglichte. Am zehnten Tag – dem unwiderruflichen letzten Arbeitstag – hielt ich um die 30 DIN-A-Seiten in Händen: Das Tagebuch des Abschieds von fast vierzig Berufsjahren!
Heute weiß ich: Der Abschied von der Profession hat in meiner Psyche keine Verletzungen hinterlassen und was ganz wichtig ist: mir steht auch zukünftig bei Verlusten im Leben eine wertvolle Bewältigungsstrategie, die der Selbstreflektion durch Schreiben, zur Verfügung!
Mittlerweile sind nun fast vier Jahre seit dem Berufsausstieg vergangen und ich habe bereits zwei Mal in die Seiten geschaut, um nachvollziehen zu können, wie ich vor Jahren gedacht und gefühlt habe. Und ich kann jedem meiner Leser, dem das LOSLASSEN schwerfällt, nur empfehlen, ganz bewusst eine individuelle Strategie auszuwählen, die sich aktiv mit der Berufstrennung auseinandersetzt.
Ihr (Vor)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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