In seinem Hauptwerk „Existenzielle Psychotherapie“ befasst sich Irvin Yalom u. a. mit der Polarisierung von Verbundenheit und Isolation. Auch in diesem dritten Spannungsfeld, das er zu den „vier letzten großen Sorgen oder Dingen“ der Menschen zählt, steckt das Potenzial für allerlei seelische Störungen. Aktuelle Studien belegen, dass die Einsamkeit sich langsam, aber stetig, sogar zu einer Volkskrankheit ausweitet …

Wir betreten diese Welt allein und durchleben sie auch ohne wirkliche geistige und seelische Vereinigung mit anderen Menschen. Trotz aller Kontakte und Beziehungen sind wir in uns und mit uns lebenlang isoliert. Diese biologisch begründete, existenzielle Abgrenzung ist durch keine noch so intensive Annäherung wirklich überwindbar. Es ist nicht möglich, in die innere intime Welt eines anderen Wesens einzudringen und sich mit ihr real zu vereinigen. Der Abgrund zwischen unserem Selbst und dem Wesen des Anderen ist unüberwindbar. Genau das ist eine permanente Quelle der Angst, mit der wir durch das Leben gehen: den Abstand zum anderen auszuhalten, ja ertragen zu müssen. Nur die Liebe kann, wenn überhaupt, den Schmerz mildern. Das wusste wohl auch schon Goethe, als er „Die Leiden des jungen W.“ schrieb.

Irvin Yalom teilt die Isolation in drei Unterkategorien auf. Da wäre zum einen die existenzielle, die biologische, die uns von der Natur mitgegebene Trennung. Zwischen uns und anderen Lebewesen gibt es einen „unüberbrückbaren Abgrund“. Wir betreten, durchleben und verlassen unseren Daseinsraum allein. Zum anderen beschreibt der Psychotherapeut Yalom die sog. intrapersonelle Isolation. Darunter versteht er den Umstand, dass sich zeitweise oder permanent bestimmte Anteile der eigenen Persönlichkeit so vorkommen, als seien sie abgkoppelt oder abgespalten vom Rest-Ich. Die Psychotherapie beschreibt sie als dissoziative Störungen. Und letztlich gibt es in seiner Welt die interpersonelle Isolation: Physisch allein gelassene Menschen fühlen sich einsam; sie sind ohne festere Bindung zu anderen Menschen oder ausgegrenzt von der Zugehörigkeit zu bestimmten Menschengruppen.

Welche Bedeutung hat insbesondere diese interpersonelle Isolation nun für Menschen im fortgeschrittenen Seniorenalter? In unserer Gesellschaft lebt etwa ein Drittel aller Menschen über 60 Lebensjahre als Single. Das muss nicht heißen, dass die Person keine Verwandten und Freunde hat, aber diese Menschen verleben den übergroßen Teil ihrer Lebenszeit ohne Kommunikations- und Umgangspartner. Viele Mediziner und Therapeuten bezeichnen schon jetzt die Einsamkeit als die größte, uns demnächst erreichende Volkskrankheit. Prof. Manfred Spitzer hat erst kürzlich dazu ein Buch herausgebracht: „Einsamkeit“. Darin legt er nachvollziehbar dar, dass die Einsamkeit die Todesursache Nummer 1 ist. – Wo liegen mögliche Auswege?

Besonders Menschen im fortgeschrittenen Alter sollten neben der Beziehungspflege im privaten Umfeld ihr außerfamiliäres, privates Netzwerk erweitern und pflegen. Denn die meisten nachwachsenden Mitglieder sowohl in den Herkunfts- als auch in den angeheirateten Familien werden oft nicht zuverlässiger in ihrer Beziehung zu den Senioren – sie driften räumlich immer weiter auseinander (in den vergangenen 20 Jahren hat sich die durchschnittliche statistische Wohnentfernung zwischen Eltern- und Kindergeneration verdoppelt!) und sind selbst nicht vor Trennungen untereinander gefeit. Der Neuaufbau und bewusste Ausbau von Kontakten zu Menschen außerhalb des familiären Sichtfeldes schafft neue Perspektiven und Ideenanstöße. Verwandtschaftliche Verluste, Entfremdungen und das Auseinanderdriften der Generationen können somit kompensiert werden. Die Suche nach Menschen und Gruppen, die gleich oder ähnlich denken und handeln wie die Einsamkeitsgefährdeten, können zu einer echten Bereicherung und Ergänzung in der dritten Lebensphase werden.

Selbst wenn die vitale, gesundheitlich stabile Lebensphase nachlässt: In einer früher oder später einsetzenden labilen Lebensphase haben wir Menschen heutzutage die technischen Möglichkeiten, weiterhin untereinander in Kontakt zu bleiben. Digitale soziale Netzwerke, vor 20 Jahren noch gar nicht entwickelt, können leicht zum Austausch im Alter bei zunehmenden Gebrechlichkeit genutzt werden. Weit über 60% aller Senioren sind aktuell überaus netzaffin und verlieren mehr und mehr die Schwellenangst vor den vermeintlichen Tücken des Internets. Allerdings sollte hier nicht das wahllose Sammeln irgendwelcher Kontakte im Vordergrund stehen, sondern die Vertiefung der digitalen Bindungen zu echten Beziehungen mit Mehrwerten für alle am Dialog Beteiligten.

Oder die städtebauliche Herausforderung, intensiver über Mehrgenerationenhäuser nachzudenken und die soziale Verflechtung von vier, ja sogar fünf Generationen unter einem Dach voranzutreiben. Vielleicht verbunden mit dem Gedanken, darin Seniorengenossenschaften zu integrieren, um allen einen Platz bei der Bewältigung von angemessenen Altersaufgaben zuweisen und für eine gerechte soziale Teilhabe sorgen zu können. Vielleicht fehlt uns dafür heute noch die ausreichende Einsicht. Doch Deutschland als zweitälteste Industrienation der Welt (nach Japan) sollte sich auch politisch um eine neue Alters- oder Seniorenkultur ohne Wenn und Aber kümmern. Die Zeit läuft.

Leider kann auch die trickreichste Technik oder eine hochgelobte künstliche Intelligenz keine endgültige Abhilfe schaffen hinsichtlich der existenziellen Isolation, der wir alle unterworfen sind. Sie kann sie abmildern, aber sie kann nicht die Intimität und persönliche Wärme schenken, die erforderlich wäre, um die größtmöglich denkbare Verbundenheit und Nähe zwischen Menschen herzustellen. Selbst ein Ministerium, eine Behörde oder ein Amt für oder gegen die Einsamkeit, wie es die Engländer vor gut einem Jahr eingerichtet haben, ist keine endgültige Lösung. Denn sie wird keinen wirklichen Sinn machen, wenn Isolation und Einsamkeit nur verwaltet werden …

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und beste Grüße –
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

Copyright Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de