
„Kann jemand endlich mal diese jämmerliche Projektion ausschalten? Das ist ja nicht mehr auszuhalten!“
Zum wiederholten Mal schreie ich es aus mir heraus und stelle plötzlich fest, dass meine Worte an der Schaltstelle angekommen sein müssen. Denn langsam beginnen die Bäume um mich herum zurückzuweichen, der blaue Himmel scheint sich langsam von mir zu entfernen und unter meinen Füßen entschwebt der Boden. Die Häuser, die vor mir liegende Straße und alles, was ich bisher noch sehen und anfassen konnte, verschwindet wie in einem zeitlupenhaften Rückwärtszoom im Nichts. Kurze Zeit später befinde ich mich in einem reinweißen Raum ohne ein Unten oder Oben, ein Vorn oder Hinten unterscheiden zu können. Es ist, als sei die absolute Starre, der ersehnte Stillstand der Welt eingetreten ist und ich an meinem sicheren Rückzugsort angekommen bin.
Ich benötige diese üble Scheinwelt nicht mehr. Schon deshalb, weil sie sich aus sich selbst heraus nicht erneuern kann. Dass sie sich nun tatsächlich auflöst, nur weil ich lauthals meine Antipathie und Aversion gegen sie herausgeschrien habe, ist schon mal unerwartet. Doch es gibt mir die Möglichkeit, mein eigenes, gewolltes und nicht mein fremderzeugtes Leben zu leben. Bisher hat die Matrix mich zu dem gemacht, was ich bin: Mit all meinen Ängsten und Freuden, mit der Wut und dem Haß, mit der Liebe und der Hoffnungslosigkeit, die ich alle in diesem alten Kontext befremdlich fand und deren Ursache ich nicht beheben konnte.

Kann man seine Eltern auch noch postum verklagen? Wegen seiner ungefragten Geburt? Ja, die eigenen Eltern, weil sie mich dem Leid des Lebens ausgesetzt haben, ohne mich zu fragen, meine Bedürfnisse zu achten und die Matrix zu erklären? Ist es angemessen, im Nachhinein antinatalistische Forderungen an seine Erzeuger zu stellen: „Seht ihr denn nicht, was ihr angerichtet habt? Macht das wieder gut!!!“
Ich mag sie nicht mehr, diese Welt mit ihren ewigen Endzeitszenarien, dem Gejammer über die globalen Veränderungen biblischen Ausmaßes, den permanent katastrophierenden Wissenschaftlern und all den hilflosen, pappmascheenen Politikern, die sich im persönlichen Kontakt belobhudeln, um sich dann von allen Orten dieser Welt aus gegenseitig anzufeinden und zu maßregeln. Ich mochte sie noch niemals wirklich, diese Art der Existenz – schon seit ich mich als kleiner Junge wehrlos den Anfeindungen meiner Mitschüler ausgesetzt sah. Und dann später, als man mir sagte, wie mein Leben zu verlaufen hätte. Und was ich wie, wann, mit wem und wie lange zu tun hätte. Doch ich musste mich gedulden, auf den richtigen Zeitpunkt warten, der jetzt gekommen zu sein scheint …

Jetzt endlich habe ich „meine“ Matrix endgültig und ohne Rückkehrmöglichkeit ausschalten lassen. Trotz mehrerer Versuche gelang es mir fast zu leicht, mich von ihr zu trennen. Unendlichen Dank dem Gönner, der dies vermochte. Und ich frage mich: Was würde passieren, wenn viele oder gar alle Menschen ihre Matrix verließen und einen strahlend weißen Raum beträten, der nur ihnen allein gehörte und den sie von nun an ohne äußere Einmischung gestalten könnten? Oder benötigt man für das Verlassen der puren digitalen Welt eine besondere Fähigkeit oder eine ausgeprägte Aura, die nicht allen Geschöpfen gegeben ist? Das wäre äußerst betrüblich …
Die Matrixwelt hat mich mit dem Wissen über die Submodalitäten ausgestattet: mit der Kompetenz zum Verändern der Qualitäten meiner Wahrnehmungen im Kopf. Also beim Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken.
Ich fange an mit dem Sehen und als gemäßigter Konstruktivist gestalte ich nun vor dem grellen Hintergrund des makellosen Weiß zuerst meine sichtbare Neuwelt. Ich lasse sie in zurückhaltenden Erdfarben erscheinen, ab und zu garniert mit türkisen, violetten und pinken Farbtupfern. Ich halte die Kontraste in engen Grenzen – nichts soll in meiner Neuwelt ins Extreme abgleiten. Die Helligkeit variiere ich sorgsam und bin darauf bedacht, ausgewogene Lichtverhältnisse zu strukturieren und auch der blauen Stunde ihre Nische zuzuweisen. Ich sorge dafür, dass beim Näherkommen die Konturen markanter und beim Entfernen die Dinge unschärfer werden. Alles, was ich visualisiere, bekommt den Platz im neugeschaffenen Panorama, genau den Platz, den ich dafür als würdig erachte.

Dann modelliere ich die Fühlbarkeit meiner neuen Umgebung. Sie soll sich angenehm begreifen lassen, heißt: Mir liegt viel daran, bereits mit der ersten Berührung so viel wie möglich an Informationen über den inneren Wert des Phänomens zu erfahren. Aber ich gestalte sie auch vielfältig, in dem ich das gesamte haptische Repertoire von kuschelweich bis kratzend und von schmierigweich bis superhart bemühe. Ich teste mit meinen Fingerspitzen die haptischen Eigenschaften, um ganz sicher zu gehen, dass sie meinen konstruktiven Ansprüchen auch weitestgehend genügen.
Meine Neuwelt soll auch eine Welt der Klänge und Töne sein: Ich modelliere sie in allen bekannten Tonarten und lasse ihnen die Möglichkeit zu lautem und zu leisem Spiel. Die Lebendigkeit der Laute und des Raumes hängt von seiner Akustik ab – ich ordne Dinge verschiedenartig an, um die gewünschten auditiven Effekte zu erzielen. Die Natur der Matrix ist zum Teil Ideengeber für die Vielzahl von Geräuschen, die ich neu strukturiere und platziere. Es könnte ein wohlklingender Garten Eden sein, der gerade entsteht: Der rieselnde Bach und der aufbrausende Orkan in trauter Eintracht mit einer gefühlsbetonten Melodie vor einer donnergrollenden Orchesterschlacht.
Zu guter Letzt sorge ich für angenehme Gerüche, für den Odeur und den Wohlgeruch aller mich umgebenden Dinge. Ich bin großzügig mit der Vergabe von Kopf-, Herz- und Basisnoten an alles, was mir wichtig erscheint und so betört das Bukett immer wieder von Neuem die Sinne. Für den Geschmack führe ich weitere Komponenten ein – mir sind die fünf gustatorischen Qualitäten aus Zeiten der Matrix entschieden zu wenig. Und so sind es bereits neun, die mich begleiten werden in meinem Ort des Wohlbefindens und der Gelassenheit.

Die Neuwelt ist fertiggestellt. Ich schaue mich in ihr um und korrigiere hier ein paar Kleinigkeiten und dort entferne ich Überflüssiges. Kräftig atme ich die belebende Luft ein und bemerke eine angenehme Milde und Würze in ihr. Und von meiner Neuwelt aus kann ich es schon spüren: Mein Universum bleibt nicht allein – es entstehen bereits weitere, die aus der Matrix herausgefallen sind und sich den Raum nehmen für neue Existenzen.
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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