Foto: Wolfgang Schiele

Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung resilienter Wirkfaktoren ist meiner Ansicht nach ein wichtiger Aspekt bisher wenig beachtet worden. Wenn wir als Säulen der Resilienz die Akzeptanz, den gesunden Optimismus, die Lösungs- und Zukunftsorientierung, die Selbstwirksamkeit, die Eigenverantwortung sowie das Netzwerken aufrufen, dann fehlt noch eine wichtige Voraussetzung, die uns das Ziel einer gelassenen Selbstkontrolle in Stress- und Extremsituationen leichter erreichen lässt: es ist die MUßE.

Unsere rasant ablaufende und äußerst flüchtige Zeit treibt uns vor sich her. Kaum haben wir die letzten zwölf Eilmeldungen überflogen, schon mahnt der Chef gleichzeitig den kaufmännischen Bericht und die Vorstandspräsentation an. Im Kopf rumoren bereits die Gedanken an die stressige, weil baustellenreiche Heimfahrt, und dort wartet dann die längst überfällige Steuererklärung. Im Kopf tobt der Guerillakrieg zwischen Arbeitsverantwortung und Privatbesorgungen, eine Schlacht zwischen beruflichem Aktionismus und familiengetriebener Fürsorge.

Alles geschieht in einer unglaubliche Hetze, eine Atempause bedeutet Zeitverlust und weitere unerledigte Arbeit. Permanente innere Unruhe hält uns vom Ankommen im aktuellen Moment ab. Wir nehmen die Welt außerhalb unserer Aufgaben nicht mehr wahr und verdrängen atem- und achtlos die warnenden Signale des Körpers. Gerade deshalb benötigen wir sie umso mehr: die entspannende Zwischenrast, das süße Nichtstun, den Müßiggang der Gedanken. Eine Zeit ohne Fremdinteressen, geschaffen für den eigenen Seelenfrieden, unsere Muße.

Das Wort Muße stammt übrigens vom Alt- oder Mittelhochdeutschen „muoza“ oder „muoze“ ab und bedeutet so viel wie Gelegenheit oder Möglichkeit. Heute könnte man die Muße auch mit Begriffen in Verbindung bringen wie: Achtsamkeit, Flow, Genuss, Kontemplation, Selbstversenkung.

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Schon das Aussprechen des Wortes Muße weckt durch das langgezogene „u“ eine Assoziation von Entschleunigung. Im Lateinischen gibt es für die Muße den Begriff „otium“, der bereits in der Antike mit Verzögerung und Langsamkeit in Verbindung gebracht wurde. Aristoteles sah in ihr eine Art selbsterfüllten Seins, sein griechischer Kollege Sokrates nannte die Muße wohl die Schwester der Freiheit und Epikur riet seinen Schülern zum vollen Auskosten der Gegenwart. Der Philosoph Günter Figal hat sie einmal so beschrieben: „Muße ist erfülltes Tun in Freiheit und Gelassenheit.“ Nicht etwa die Suche nach späterem Ausgleich einer in Beruf und Freizeit gespaltenen Welt, die nachträgliche Wiedererlangung eines Gleichgewichts zwischen Ruhe und Hektik (wie sie z. B. das Modell der „Work-Life-Balance“ verbreitet) ist der Schlüssel auf dem Weg zu Stärkung und Entspannung. Sondern eine Haltung, die die Tätigkeit selbst zum Zweck macht, ihr Sinn im Hier und Jetzt verleiht. Die Entschleunigung soll in den Arbeitsprozess selbst integriert sein und nicht als nachträgliche, womöglich geplante und streng strukturierte (und damit auch wieder fremdbestimmte) Kompensationsaktivität erfolgen.

Im gehetzten Alltag glauben wir, für die Muße weder Zeit zu haben noch passende Gelegenheiten nutzen zu können. Doch bei genauerer Außenbetrachtung finden wir allemal Momente, in den wir etwas für unsere gestresste Psyche tun können. Diese kurzen Zeitabschnitte reichen meist nicht aus, um die klassischen Übungen zur Resilienzstärkung durchzuführen. Sie genügen aber, um unser Dasein, unsere körperliche und seelische Existenz wieder spürbar zu machen. Hier einige Beispiele, wie man mit einfachen „Alltags-Muße-Mitteln“ der Tyrannei der Effizienz und der Herrschaft der Zeit während einer Tätigkeit nachkommen und dabei individuell entstressen kann:

  1. Nutzen Sie bewusst auch noch so kleine Pausen, z. B. beim Händewaschen: Verinnerlichen Sie dabei jede noch so kleine Bewegung, nehmen Sie die gegenseitigen Fingerberührungen intensiv wahr, bewundern Sie die Wandlungsfähigkeit des Seifenschaums …
  2. Gehen Sie zum nächsten Arbeitsort bewusst langsamer. Betrachten Sie jeden Schritt als starke persönliche Präsenz und Kompetenz, treten Sie fester mit den Füßen auf und fokussieren Sie dabei Ihre Gedanken auf genau die nächste zu erwartende Situation.
  3. Lassen Sie einen Anrufer ganz bewusst dreimal klingeln. Atmen Sie bei jedem Klingeln tief durch. Nehmen Sie Ihren Körper bewusst wahr und spannen Sie Ihre Wangenmuskeln so an, dass ein Lächeln auf Ihren Gesicht entsteht (vielleicht haben Sie ja einen Spiegel in der Nähe …)
  4. Erwarten Sie in unklaren und ergebnisoffenen Situationen immer positive Überraschungen. Sollten sie dennoch negativ ausfallen, stellen Sie sich innerlich die Fragen: „Worin liegt das Gute im Schlechten? Was habe ich gerade daraus gelernt?“
  5. Nutzen Sie die Zeit des Computerstartes für sich selbst – bringen Sie parallel zur Maschine ihre eigenen Ressourcen in Bereitschaft.
    Fahren Sie Ihren Körper und Ihren Geist mental ebenfalls hoch.

  6. Machen Sie möglichst viele Alltagstätigkeiten zum Selbstzweck. Tun Sie sie um ihrer selbst willen: die Tasse abwaschen, das Geschirr
    wegräumen, das sinnliche Erspüren der Formen und Oberflächen.

  7. Geben Sie Ihrem Körper die Möglichkeit des „Sinn-Erlebens“: Spüren Sie durch Ihren Atem die eigene Existenz, erleben Sie in den Dingen um Sie herum eine bunte, belebte und Ihnen wohlgesinnte Welt.
  8. Halten Sie in stressigen oder nervigen Alltagssituationen inne und lassen Sie positive Bilder vor Ihrem geistigen Auge erstehen, Ihre „Moments of Excellence“: energiespendende Bilder, sanfte Töne und
    wohlige Gefühle, die Sie in entspannten Zeiten eingesammelt haben.
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Trennen Sie nicht Arbeit von Freizeit, denken Sie nicht (nur) in „Entweder-Oder-Kategorien“, sondern schalten Sie besser (ab und zu) in den „Sowohl-Als-Auch-Modus“. Die transgressive, überschreitende Koexistenz zwischen eigenem Sein und äußeren Herausforderungen kann einen neuen Erlebenszustand schaffen. In die Tätigkeit integrierte Momente der Muße führen zu durchgängigerer Entspannung und ergänzen in simpler Art und Weise die Methoden zur Resilienzstärkung.

Deshalb kann man auch sagen: die Muße ist die „Windstille der Seele“, und die Resilienz ihr „Katastrophenschutz“.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de