In der Sinnforschung – u. a. an der Uni Innsbruck durch Prof. Tatjana Schnell – wird seit längerer Zeit akademisch darüber nachgedacht, welche Lebensbereiche, Motivatoren und Kompetenzen als Sinnquellen für uns Menschen bedeutsam sein könnten. Vor gut zehn Jahren hatte man die wichtigsten zusammengetragen: Insgesamt 26 „Lebensbedeutungen“, die je nach Intensität und Präsenz sinnstiftend oder sinnneutral sind. Oder anders gesagt: „Was gibt meinem Leben einen Sinn?“ oder: „Was macht mich trotzdem glücklich?“ Ich will versuchen, die einzelnen Bedeutungen auf die reife, vor dem (oder auch schon im) Ruhestand stehende Generation der Babyboomer zu adaptieren …

Grafik: Wolfgang Schiele

Die Gruppe des WIR- und WOHLGEFÜHLS befasst sich vorrangig mit innengerichteten Lebensqualitäten: mit Harmonie, Spaß, Liebe, Wellness, bewusstem Erleben, aber auch mit der Fürsorge und Gemeinschaft. Zur Gruppe der ORDNUNG gehören die Vernunft, die Tradition, die Bodenständigkeit und die Moral.
Viele Menschen benötigen für ein erfolgreiches und erfüllendes Leben Ordnungsvorgaben. Sie benötigen einen sozialen Ordnungsrahmen, der ihnen Halt und Orientierung gibt, grundlegende Gebote für moralisches Verhalten und Regeln vorschreibt und auch Verbote lm gemeinschaftlichen Zusammenleben erteilt. In der Gruppe des Wir- und Wohlgefühls begegnen wir sehr persönlichen Lebensbedeutungen, die oftmals eng mit unsere Gefühlswelt in Verbindung stehen. Beginnen wir mit der ORDNUNG:

* Die Vernunft ist das durch Denken bestimmte menschliche Vermögen zur Erkenntnis. Jeder Erkenntnisgewinn erfolgt auf der Grundlage von ganz individuellen moralischen und wertbestimmenden Faktoren. Vernunft bedeutet u. a., seinen Willen frei zu lenken und sein Handeln daran auszurichten. Aus dem freien Willen ergibt sich aber auch die Verpflichtung zur Verantwortung. Wir sind entgegen landläufiger Ansicht nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Vernunft ist das, was uns Menschen gegenüber Tieren, die u. U. auch über einen gewissen Verstand verfügen, unterscheidet. Es ermöglicht uns, Einsichten in naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge zu gewinnen, eine eigene Urteilskraft zu entwickeln und komplexe Zusammenhänge im Weltenlauf zu erkennen. Durch unsere Vernunft wird der Sinn, die Struktur und die Ordnung des Wahrgenommenen erkannt.

* Sinngebend für viele Menschen ist die Bewahrung und Sicherung von Traditionen. Dazu gehören die Pflege von Brauchtum, das Zelibrieren von Ritualen oder auch die Beachtung und Einhaltung von Sitten. Gewohnte Verhaltensweisen, festinstallierte Umgangsformen und sozialadäquate Lebensarten bieten vielen Menschen einen überschaubaren, fest umrissenen und stabilen Ordnungsrahmen, der einen Kontrollverlust weitgehend ausschließt. Denn der Verlust von Übersicht und Beeinflussbarkeit im sozialen Zusammenleben kann zu Stress, Konfrontation und Ausgrenzung führen. Gerade im fortgeschrittenen Alter möchten wir an Traditionellem festhalten, weil es Sicherheit gibt und Zugehörigkeit garantiert. Gewohntes und Bewährtes sind die Fixpunkte, die die Kraft sparen, die man im fortgeschrittenen Alter z. B. für seine körperliche Gesunderhaltung und geistige Fitness weitaus besser verwenden kann.

* Wer möchte nicht seinen festen Platz im Leben so lange wie möglich behalten? Als wir entscheiden mussten, wie und wo meine Mutter betreut und gepflegt werden soll, stand zuerst die Idee des Einzuges in ein Heim in der Nähe meiner Heimatstadt. Doch ältere Menschen im hohen Alter wollen sich nicht noch einmal „verpflanzen“ lassen, möchten am Ort ihrer langjährigen Wirkung verbleiben. Sie sehen das pragmatisch und sehr situationsbezogen, z. B. im Kontext so mancher Vorerkrankung und im Zusammenhang mit bedeutsamen Lebenserinnerungen am Ort. Bodenständig sein, heißt mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen, klare Prinzipien zu verfolgen und in fixen Strukturen zu leben. Das spart Energie und Zeit. Und gerade deshalb können diese Bodenständigen aus ihren stabilen Stand heraus ihren Blick in die Ferne schweifen lassen, um die Welt zu erkennen. Bodenständigkeit erhält in der aktuellen Coronakrise womöglich eine völlig neue Bedeutung – und heißt „Bleib besser zu Hause!“ Das verringert das Erkrankungsrisiko, tut der Umwelt gut und verbessert u. U. sogar die Bindung an die Heimat (die man nun im Alter erst so richtig kennenlernt …)

* Die Moral ist eine Lebensqualität, die von klaren Richtlinien und Wertvorgaben lebt. Sie manifestiert sich als Denk- und Handlungsmuster und orientiert sich an den (aktuellen) Normen, Tugenden und Werten einzelner Gruppen oder ganzer Gesellschaftssysteme. Verstöße gegen einschlägige Moralvorstellungen werden oftmals mit dem Ausschluss aus Gruppenzugehörigkeiten geahndet und können existenziell bedrohlich werden. Moral unterliegt im Laufe des Lebens einer Veränderung. Als Kinder/Jugendliche erleben wir, dass das, was nicht bestraft wird, moralisch korrekt und zulässig ist. Dann werden wir in einer Welt erwachsen, in der wir sowohl Personen begegnen, die Dinge gutheißen, dann wieder anderen, die sie verdammen. Vor der Ausprägung einer klaren eigenen moralischen Position zu den Sachverhalten und Personen unserer Umgebung steht der innere Widerstreit. Im fortgeschrittenen Alter dann haben wir eine autonome, gefestigte Moral entwickelt, hinter denen stabile Wertvorstellungen und mannigfaltige Lebenserfahrungen stehen. Moral bekommt mit zunehmendem Alter regelmäßig eine größere Sinnbedeutung. Und das, 0bwohl sie meist sehr unterschwellig, fast unbewusst und nur im Hintergrund zugeschaltet ist.

* Menschliche Nähe, Freundschaft und Verbundenheit sind nur in der Gemeinschaft erfahrbar. Im Ruhestandsalter reduzieren sich erfahrungsgemäß die Kontakte, hauptsächlich durch schnellen Wegfall der sozialen Netzwerke aus dem Berufsleben. Sie müssen durch stärkere familiäre Bindungen ersetzt werden, es sei denn, man bemüht sich um neue personelle Verflechtungen oder baut neuartige Netzwerkstrukturen auf. Obwohl in unserer Gesellschaft weit über 20 Millionen Menschen zu den Senioren zählen – Deutschland ist dem Durchschnittsalter nach die zweitälteste Industrienation – fehlen uns immer noch weitreichende Angebote aus Politik und Gesellschaft für den Aufbau einer Alter(n)skultur und eine angemessene Wertschätzung für die Lebensleistung älterer Menschen (Stichwort: Rente). Das hat zur Folge, dass viele Menschen vereinsamen und dadurch häufig psychisch erkranken. In Großbritanien hat man erkannt, dass Einsamkeit zur Volkskrankheit werden kann und ein eigenes Ministerium dagegen geschaffen. Es macht Sinn, auch bei uns die große Bedeutung der gemeinschaftlichen Teilhabe in der dritten Lebensphase zu erkennen und umzusetzen.

* Spaß im Alter – ein Garant für geistige und körperliche Fitness! Wer den Humor auch in krisenhaften Zeiten nicht verliert, auch wenn er oder sie sich mit dem einen oder anderen Wehwehchen oder Gebrechen herumschlägt, kommt besser durch´s Leben. Spaß hat auch viel mit dem gemeinsamen Erleben unserer Welt zu tun – damit steht er in engstem Zusammenhang mit der vorgenannten Lebensbedeutung der Gemeinschaft. Wir haben uns vielleicht für die Zeit des Ruhestandes eine Menge „Arbeit“ vorgenommen; trotzdem – oder gerade deshalb – sollte dem Vergnügen ausreichend Platz gewidmet werden. Spaß und Humor regen die Produktion unseres Glückshormons Dopamin an. Aber auch die Ausschüttung von Oxytocin, unserem Neurotransmitter für Harmonie und Geselligkeit, für Aufgeschlossenheit und Zusammensein trägt zur Verbesserung der Gesundheit bei. Nutzen wir alle Gelegenheiten für das Vergnügen im Ruhestandsalltag!

* Sie darf natürlich als Lebensbedeutung bei der Suche nach dem Sinn im Leben nicht fehlen: die Liebe. Sie wird sich vielleicht wandeln und nicht mehr ganz so stürmisch und leidenschaftlich sein, wie in jüngeren Jahren. Und sie wird sich womöglich mit anderen, neuen Gesten und Berührungen, mit angepassten Zärtlichkeiten und Näheerfahrungen bemerkbar machen. Vielleicht treten die sexuellen Momente etwas in den Hintergrund und die wertschätzenden Augenblicke nehmen zu. Oder aber man entdeckt im reifen Erwachsenenalter plötzlich völlig neue Spielarten der Liebe und beginnt zu experimentieren mit der gemeinsamen Intimität. Und vielleicht wird aus so manch einem Rationalisten der früheren Berufswelt ein Romantiker par excellence … Die Spanne der Möglichkeiten ist groß. Immer wird die Liebe eine starke emotionale Zuneigung sein, die die tiefe Verbundenheit mit einem anderen Menschen widerspiegelt. Im Reigen der Wohlgefühls spielt sie in meinen Augen die größte Rolle – und ihre Bedeutung für den Lebenssinn ist wohl grenzenlos.

* Wellness steht in einem engen Zusammenhang mit den Lebensqualitäten Gesundheit und Spaß. Der anglizierte Begriff Wellness entspringt einer Gesundheitsbewegung der Endfünfziger in den USA und stellt ein ganzheitliches Konzept dar. In ihm vereinigen sich individuelles Wohlgefühl sowie körperlicher als auch sinnlicher Genuss. Im Alter sollten wir der Wellness einen großen Stellenwert einräumen, weil sie eine Reihe von aktiven und passiven Verhaltensweisen zusammenfasst, die unsere Lebenserwartung entscheidend erhöhen können. Dazu gehören eine gesunde, ausgewogene Ernährung; regelmäßige Bewegung, am besten draußen, in Gemeinschaft, im Wald (Stichwort: Waldbaden!); Entspannungs- und Stressbewältigungsmethoden, wie Autogenes Training oder Yoga; der bewusste Umgang mit Genussmitteln und der Natur als auch die Körperpflege als Mittel zur Regeneration von Körper, Geist und Seele.

* Anderen Menschen zu helfen, ihnen in schweren oder krisenhaften Zeiten zur Seite zu stehen und sich um sie zu kümmern, das alles macht die Lebensbedeutung der Fürsorge aus. Mit Blick auf uns selbst, unsere kleinen und großen Zipperlein und seelischen Probleme, können wir selbst viel besser nachempfinden, wie es anderen Menschen geht und so ensteht in vielen von uns auch ein Gefühl der Nächstenliebe, das einen großen Teil des Lebens ausmachen kann. Selbstverständlich ist nicht jeder Mensch dafür geboren, anderen lebenslang Fürsorglichkeit, Pflege und Betreuung angedeihen zu lassen. Doch mit zunehmender Empathiefähigkeit nimmt das Bestreben des Kümmerns um andere Menschen zu.

* Die Lebenszeit ist den meisten zu kurz. Viel zu oft sind wir jedoch in Zeiten unserer beruflichen Tätigkeit achtlos und unter Zeitdruck an den kleinen und großen Geschenken der Natur vorbeigegangen. Nun sind wir in der komfortablen Lage, unsere zeitliche Freiheit dafür zu nutzen, die uns umgebenden Wunder bewusst zu erleben. Mit Achtsamkeit, Gelassenheit und auch einmal ohne das Hinterfragen von Ursachen oder Gründen einfach schauen – ohne zu bewerten, ohne zu kritisieren, ohne zu beurteilen. Bewusst erleben bedeutet jeden Moment all das in sich aufzunehmen, was uns bisher aus den verschiedensten Gründen nicht möglich erschien, im Arbeitsleben abtrainiert wurde oder was wir uns aus falscher Eitelkeit oder Trotz selbst versagt haben. Zum bewussten Erleben gehören aber auch ganz aktive Tätigkeiten: Das zielbewusste Schaffen von kleinen oder auch größeren Ritualen, die uns noch zu den Höhepunkten im Leben verhelfen, für die wir eigentlich auf dieser Welt sind.

* Ein weiteres Lebensideal und damit letzte und 26. Lebensbedeutung ist die Harmonie. Ganz im Einklang mit sich selbst sein, in der Balance mit anderen Menschen oder Gruppen schafft ein Gefühl der Gelassenheit. Die durchlebten turbulenten Episoden der Vergangenheit, die gleich wieder verblassende Gegenwart mit ihrem widersprüchlichen Jetztsein und die Zukunft als eine kommende Zeit weiterer spannender Lebensentdeckungen als akzeptable, erfüllte und liebenswerte Zeiten zu verstehen und zu akzeptieren, wie sie waren – das sind die Voraussetzungen für ein Leben im Gleichgewicht. Das macht besonnen und freundlich, ausgeglichen und gelassen. Und die Gelassenheit sollte genau die Eigenschaft sein, die wir vorrangig in unserer „Späten Freiheit“ benötigen, um dem Leben Sinn und Zweck zu verleihen.

Abschließend ein Zitat des wohl dienstältesten Psychotherapeuten der Welt, der mir viele Vorlagen für Workshops und Lesungen geboten hat:

„Erfinde einen Sinn, der stabil genug ist, um als Fundament des Lebens zu dienen und vollziehe dann das knifflige Manöver, die eigene Urheberschaft an diesem Sinn zu leugnen.

(Irvin D.Yalom, US-amerikanischer Psychotherapeut)

Anmerkung: Ausführungen zur SELBSTVERWIRKLICHUNG können Sie unter https://wp.me/p7Pnay-2JI nachlesen, die Lebensbedeutungen der horizontalen und vertikalen SELBSTTRANSZENDENZ finden Sie unter https://wp.me/p7Pnay-2Lr.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de