Foto: Wolfgang Schiele

Was würden wir im Leben nicht alles dafür geben, uns wohlzufühlen! Und dennoch haben wir oftmals das Gefühl, dass es mit dem eigenen Wohlbefinden nicht all zu weit her ist – zu genervt, zu aufgeregt, zu flüchtig und zu unstet eilen und hasten wir durch die Welt und die Zeit. Und verpassen die Momente des persönlichen Aufblühens, auch „Flourishing“ genannt, um einen Begriff der Positiven Psychologie zu verwenden. Letztere hat sich zum Ziel gesetzt, alles dafür zu tun, dass Menschen nicht verkümmern, sondern aufblühen können. Doch dafür müssen ein paar Voraussetzungen erfüllt sein. Denn Studien zeigen, dass nur etwa 20% aller Menschen aufblühen, sich als „liebes-, arbeits- und genussfähig“ – also in jederlei Hinsicht als voll leistungsfähig – betrachten. Sollte es Ihnen im beruflichen Leben nicht beschieden gewesen sein, aufzublühen, dann holen Sie das doch einfach im Ruhestand nach!

Grafik: Wolfgang Schiele

In seinem Buch „Flourish. Wie Menschen aufblühen“ (2012) stellt Martin Seligman, einer der Begründer der Positiven Psychologie, sein sog. „PERMA-Modell“ vor. Es leitet sich ab aus den Anfangsbuchstaben einer Reihe von Maßstäben und Werten, mit denen man das „Konstrukt Wohlbefinden“ gut beschreiben kann. Als da sind:

P wie positive Emotionen,
E wie Engagement,
R wie Relationships (Beziehungen),
M wie Meaning (Sinn) und
A wie Achievment (Zielerreichung durch Leistung) oder Accomplishment (Gelingen).

Nun wäre ich ein schlechter (vor-)Ruhestandscoach, wenn ich das Seligmansche Modell nicht auf die Übergangszeit vom Berufsleben in den (Un-)Ruhestand testen würde …


Beginnen wir bei den positiven Emotionen. Sie beinhalten das Gegenteil von dem, was Martin Seligman als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnete. Damit ist eine dreifach falsche Erwartungshaltung gemeint, die wir im Verlaufe unserer Erziehung und persönlichen Entwicklung von Eltern und Erziehern übernommen haben. Meist beruht sie auf einer (fehlerhaften) frühen Eigenerkenntnis oder Fremdeinredung, eine bestimmte Situation nicht in unserem Sinne beeinflussen zu können. Im Kern basiert sie auf drei Überzeugungen:

Das Problem bin ich.
Es ist allgegenwärtig.
Es ist unveränderlich.

Mit dieser Grundhaltung verlieren wir die Kontrolle über die Welt und uns persönlich. Und laufen im schlimmsten Fall Gefahr, depressiv zu werden.
Die positiven Emotionen hingegen sind die natürlichen Gegenspieler zur „erlernten Hilflosigkeit“: Sie sind der optimistische Kontrast zu alten, behindernden Verhaltensmustern, die uns vor allem im Alter vor einer Depression schützen können. „Nun kannst du dich endlich zur Ruhe setzen“ oder „Endlich hast du es erreicht, das Rentnerleben!“ können für viele Menschen das völlig falsche Signal sein. Besser erscheint mir eine Einstellung, die sich aufgeschlossen, neugierig und wissensdurstig der Welt zuwendet und noch kreative alterskonforme Ruhestandsprojekte ins Auge fasst. Die Überzeugung, trotz des fortschreitenden Alters einen wichtigen Beitrag im familiären, gesellschaftlichen oder gar professionellen Leben leisten zu können, löst positive Gefühle aus, stärkt das Immunsystem (gerade jetzt ganz wichtig im Alter!) und widerlegt die These vom alten Eisen, das nun nicht mehr gebraucht wird.


Engagement bedeutet, sein Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Das kann auch die Aufnahme einer gemeinnützigen Tätigkeit bedeuten, Hilfe im Familien- und Freundeskreis zu leisten oder jüngeren Menschen seine lebenslangen Erfahrungen zu vermitteln. Wer nur zu Hause auf die Erleuchtung wartet und davon ausgeht, im Ruhestand wird mir von den anderen endlich all das Gute und Schöne geboten, was ich lange vermisst habe, dem droht womöglich ein „Bore-out-Syndrom“, ein Vorbote der Depression. Es ist das Gegenteil von Burn-out, dem geistigen, körperlichen und seelischen Ausbrennen während der Berufszeit: die große Langeweile, eine unerwartete, aber erhebliche Unterforderung von Geist und Seele. Zielgerichtetes Altersengagement trägt wesentlich dazu bei, lange geistig und körperlich fit und in einer guten psychischen Balance zu bleiben. Begegnen Sie sich selbst und anderen Menschen immer mit Achtung und Wertschätzung und schenken Sie ihnen einen Vertrauensvorschuss. In den allermeisten Fällen erhalten Sie eine positive und Selbstwert stärkende Reaktion zurück, die man auch Positivitätsresonanz nennt.

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Relationships: Begeben Sie sich in erweiterte Beziehungen, zeigen Sie Verbundenheit mit Menschen, die Sie noch gar nicht kennen. Bauen Sie neue Netzwerke auf, die Sie mit Personen und Gruppen verbinden, die ähnlich oder genau wie Sie denken und fühlen. Bedenken Sie dabei, dass Ihre bisherigen beruflichen Netzwerke von einem zum anderen Tag verlorengehen und die familiären aus biologischen Gründen nicht größer, sondern eher kleiner werden. Versuchen Sie, sich in das Denken und Verhalten anderer Menschen hineinzuversetzen und stärken Sie Ihre empathischen Fähigkeiten. Wie Wissenschaftler festgestellt haben, sind diese Fähigkeiten am weitesten zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr entwickelt. Und da Sie jetzt von den Restriktionen und Zeitzwängen des Berufslebens befreit sind, verfügen Sie über viel Spielraum für´s Zwischenmenschliche: Gestalten Sie Ihre Beziehungen zu lieben Menschen weiter aus, errichten Sie ein ganzes „Haus der gelingenden Beziehungen“. Das bedarf sicher auch einer erneuerungsbedürftigen Einstellung zum Partner, der dann meist auch im Ruhestand ist und mit dem man völlig neue Tagesabläufe und Lebensstrukturen erschaffen muss. Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf!

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Der Sinn, der das Leben lebenswert machen soll, wurde uns nicht mitgegeben. Meaning, also den Lebenssinn, muss jeder von uns selber finden. Wenn wir uns die Frage nach dem Zweck, der Bestimmung unseres Daseins noch nicht gestellt haben (weil wir einfach keine anderweitig beschäftigt waren …), dann ist mit dem Übergang vom Beruf in den Ruhestand genau der richtige Zeitpunkt gekommen, es zu tun. Da wir vielleicht erstmals bewusst feststellen, dass das Leben endlich ist, ist es an der Zeit, über die noch nicht erledigten Aufgaben und Ziele nachzudenken. Was möchte ich unbedingt noch erleben, mit wem möchte ich noch einmal ein Abenteuer wagen, welche Botschaften den nachkommenden Generationen mitgeben? Welchen Fußabdruck möchte ich hinterlassen – und es muss nicht unbedingt ein so bedeutender, wie der des ersten Menschen auf dem Mond, sein. Es reicht schon eine feine Spur, die erkennbar unsere eigene ist, und die dafür sorgt, dass sich andere unmittelbar an uns erinnern. Finden wir Dinge, die uns als biologische Wesen überdauern und eine Rückbindung zum Großen und Ganzen des Universums herstellen.


Für den Buchstaben A bevorzuge ich das Accomplishment im Sinne von Gelingen. Möge uns der Ruhestand gelingen und erfüllen. Denn – hurra! – wir sind souverän und frei und dürfen leidenschaftlich brennen für unsere kommenden Ruhestandsprojekte und Alterserfolge. Wir sind nicht mehr gebunden an Vorgaben Dritter oder Aufträge von Organisationen, müssen (fast) niemandem Rechenschaft ablegen für unser Tun. Wir können aufbauen auf die Leistungen und Triumphe einer Vergangenheit, in der wir kleine und große Entscheidungen getroffen haben, auf die wir stolz sein können. Der wohlwollende, versöhnende Blick zurück ist der Ausgangspunkt für die eigenverantwortliche und selbstbewusste Zukunftsgestaltung unserer späten Freiheit. Mit den vielfältigen Kompetenzen und bewährten Bewältigungsstrategien, die wir uns im Leben angeeignet haben, können wir den Herausforderungen einer reifen Lebensphase beruhigt entgegentreten.

Ohne, dass es ein Seligman bei der Konzeption seines PERMA-Modells ahnte, hat er nebenbei auch einen Gebrauchsleitfaden für die aktive Gestaltung der dritten Lebensphase geschaffen. Die Modellkriterien, die er anführt, lassen uns bei richtiger Anwendung im Alter aufblühen. Sie sind wichtige Bausteine für die Erreichung einer hohen Lebenszufriedenheit und eines gelassenen Gefühls des Wohlbefindens.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de