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Im Rahmen seiner Forschungen zur Schematherapie hat der deutsche Psychotherapieforscher Klaus D. Grawe vier psychische Grundbedürfnisse herausgearbeitet. Neben den biologischen Basisbedürfnissen, die der Mensch zum Funktionieren und Überleben in unserer Welt braucht, müssen für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit weitere, möglichst ausbalancierte psychosoziale Bedürfnisse befriedigt werden. Dabei handelt es sich um das Streben nach Bindung, nach Kontrolle und Orientierung, nach Selbstwerterhöhung und nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung.

Werden diese Bestrebungen nicht oder nicht in ausreichendem Maße bedient oder gar verletzt, dann resultieren daraus Schädigungen der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens. Die Bindung an eine Bezugsperson beginnt bereits im frühesten Kleinkindalter – sie gibt dem Neugeborenen Schutz, Sicherheit, Halt und Hilfe beim Start in das Leben. Spielen in den Entwicklungsjahren für das Nähe- und Zugehörigkeitsbedürfnis die Eltern und Elternfiguren eine wichtige Rolle, so verlagert sich im entwickelten Erwachsenenalter das Bindungsbedürfnis auf enge Freundschaften und Paarbeziehungen.


Einen unabdingbaren Aspekt für das Überleben und für zielgerichtete Aktivitäten stellen die Kontrolle und die Orientierung in und über unsere Umwelt dar. Je nachdem, ob sich Dinge situativ bzw. in der Vorausschau einordnen und kontrollieren lassen, entscheidet sich, ob sich Einsatz und Engagement im Leben lohnen oder Initiative und Hingabe keinen Sinn machen.


Unter allen Geschöpfen ist die Selbstwerterhöhung ausschließlich dem Menschen vorbehalten. Sie beinhaltet das Bestreben, von anderen geschätzt zu werden, kompetent und wertvoll zu sein. Das Bedürfnis nach Steigerung des Selbstwertgefühls ist ein entscheidender Faktor für die eigene Motivation und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Wird es nicht erfüllt, nimmt unser Selbstbild Schaden und wird oftmals zum Therapieziel.


Sehr individuell stellt sich das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung dar. Wie wir einen Reiz bewerten, hängt weniger von objektiven Merkmalen ab, sondern vordergründig von unseren Vorerfahrungen und langfristigen Überzeugungen. Das Bedürfnis beschreibt unser lebenslanges Bestreben, immer wieder lustvolle und erfreuliche Zustände zu schaffen und im Gegenzug gleichzeitig aversive und schmerzliche Erfahrungen zu vermeiden.

In unserem Leben wechseln sich die Protagonisten ständig ab, die Umweltbedingungen verändern sich laufend und unsere Werte und Rollen unterliegen einer permanenten Transformation. Doch die Befriedigung der vier psychosozialen Grundbedürfnisse ist in jeder Lebensphase von anhaltend großer Bedeutung; sie ist sozusagen eine Determinante. Unsere Grundbedürfnisse benötigen jedoch einen stabilen und verlässlichen Rahmen, der die Voraussetzungen für ihre Umsetzung erfüllt.


Das gilt auch für die Zeit des Ruhestandes und des Alterns sowie für die Lebensphase der Weisheit. Je älter wir werden, desto unsicherer und hilfloser, desto anlehnungsbedürftiger und näheliebender werden wir. Wir suchen Bindung für den Selbstschutz und als Alternative zur Einsamkeit. Da unsere körperliche Verfassung mit den Jahren nicht besser wird und oftmals auch von seelischen Störungen begleitet ist, suchen wir in der dritten Lebensphase nach Ruhepunkten und Richtungsmarken, die uns vor einem Kontrollverlust und vor Orientierungslosigkeit schützen können. Wir benötigen feste „Haltegriffe“ und Grundüberzeugungen, von denen aus wir das um uns herum ablaufende Geschehen noch verstehen und nachvollziehen können. Anstelle der verlorenen beruflichen Wertschätzung und Achtung brauchen wir die gemeineigene Bestätigung dafür, nicht überflüssig und nutzlos, sondern kompetent und nachgefragt zu sein – und zu bleiben. Und den externen sozialen Ansporn dafür, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und uns einzubringen.

Die Selbstwertentwicklung ist auch noch im hohen Alter möglich, wenn zum einen die Gesellschaft altersgerechte Rahmenbedingungen schafft und zum anderen die Senioren offen und aufgeschlossen für Neues bleiben. Trotz möglicher Beschwerden und Krankheiten sind das Streben nach Lust und die Vermeidung von Leiden unendlich starke Triebkräfte für erfolgreiche Bewältigungsstrategien bei der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Alter(n)s. Eine wiederentdeckte Liebe und ein fester partnerschaftlicher Zusammenhalt können weiter – oder auch wieder – die Lust am Dasein beflügeln und den späten Ruhestand erfüllend und sinnreich machen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Best ager
Wolfgang Schiele

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