Sage niemand, es gäbe keine Zeitreisen …

Tagebücher sind wie Zauberstäbe – und wenn man sie nach 50 Jahren beim Aufräumen findet, dann lösen sie schlagartig einen gedanklich und körperlich deutlich spürbaren Rückfall in die beschriebenen früheren Lebensabschnitte aus. Und wenn man darüber hinaus noch eine Gedichtsammlung aus dieser Zeit findet, ist all das Sehnen und Leiden, das Bangen und Hoffen, das Lieben und Verachten der Jugendzeit in komprimierter Form wieder omnipräsent.

Beim Lesen der wiedergefundenen Gedichte leide ich authentisch mit, als wäre ich in genau dem Lebensalter, in dem sie entstanden. Auch wenn ich heute nicht mehr genau weiß, wem ich einige der Zeilen einst gewidmet habe und aus welcher Liebeskummersituation oder himmelhochjauchzenden Euphorie heraus sie entstanden sind. So bergen sie doch ein ungeheuer großes Potenzial an Wärme, Mitgefühl und Empathie, das mich heute staunen macht. Leider führte nicht nur der sich wandelnde Hormonmix, sondern vor allem die einsetzende Sozialisierung dazu, dass meine Liebes- und Leidensfähigkeit danach spürbar nachließ. Denn im Prozess der beruflichen Karriere waren verklärte, einfühlsame Romantik und schmachtendes Sehnsuchtsdenken nicht gefragt. Und so trauere ich anlässlich der Wiederentdeckung von Tagebüchern und Gedichtband ein wenig den Zeiten nach, in denen sich meine Gefühle frei entfaltet haben und das auch durften.

In den Gedichten – wie auch in den umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen meiner späten Jugend zwischen 17 und 19 – spiegeln sich neben der Suche nach der eigenen Identität und Weltenposition auch die adoleszenten Unsicherheiten gegenüber den Mädchen und der eigenen Sexualität wieder. Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten wechseln sich ab mit radikalen Bewertungen dessen, was rational um mich herum geschieht und mir nicht passt; aber auch mit den Sensibilitäten eines jungen, in der Spätpubertät stehenden Menschen, dessen Gefühle zwischen den Leiden des Werthers und den ersten euphorisierenden Berührungen im zwischengeschlechtlichen Kontakt hin und her schwanken. Ein Drahtseilakt für alle Beteiligten – am krassesten für mich selbst. Doch ohne diese Phase des geistigen und körperlichen Transformationsprozesses wäre der Lebensfaden so nicht weitergesponnen worden, wie er sich tatsächlich spann.

Ich räume ein, kein Avantgardist in Sachen körperlicher Liebesbeziehungen gewesen zu sein. Umso mehr hatten wohl meine platonisch-romantischen Ansätze die einmalige Chance, sich in einer Reihe von spätjugendlich-pubertären Gedichten wiederzufinden, auch wenn ich schon 17, 18 oder auch 19 Lenze zählte. Hier ein Beispiel aus dem Jahre 73:

VERLIEBT SEIN (Gedanken zu einem Foto von David Hamilton)

ihr blick zur straße gerichtet
in ihren jungen brüsten
das verlangen nach wärme fast
der berührung preisgegeben
verwegenen haaren um
ihren mund verschwunden ein
erwartendes lächeln
vergessener blick
und ein holz von ihr ertastet
finger
die gestern den liebsten umspielten

an den scheiben klopfen
sich regentropfen wund

(Wolfgang Schiele, 20.8.73)

Foto: Wolfgang Schiele

Das Lesen der eigenen frühen Gedichte macht etwas ganz Besonderes mit mir: Es verjüngt mich und allein die mit den Versen aufkommenden Assoziationen versetzen mich in einen Zustand der heiteren Gelassenheit, in ein Gefühl seliger Unsterblichkeit und in die Gewissheit einer unantastbaren Seele. Da ich beim Lesen aus der aktuellen Realität in die regressive Frühzeit meines Lebens springe, habe ich den Eindruck, das Leben habe vor Kurzem erst begonnen und der Tod läge unendlich weit weg hinter dem Horizont. Wie berauschend und tröstlich – mehr von diesen Emotionen, mehr von diesen Aussichten, mehr vom Leben – und sei es auch mit allerlei Liebeskümmernissen gepflastert! – Ach, wie fühle ich mich plötzlich wieder jung!

Zum Abschluss ein Gedicht, das ich vermutlich am langen Ende meiner romantisch-poetischen Periode geschaffen habe. Ich habe es nach seiner Entdeckung wieder und wieder gelesen und ich bin doch ein wenig überrascht, wenn nicht sogar verzückt über seinen Rhythmus, den ich ihm seinerzeit verliehen habe. Aber die Schönheit der Dinge liegt natürlich immer im Auge des Lesers …

Für Dich (Vertrauen)

Ich liebe Dich
weil ich nicht lassen kann
was mich an Schönheit zwingt.

Ich liebe Dich
weil ich ergründen will
was von dir in mich dringt.

Ich liebe Dich
weil ich begreifen will
wohin Dein Schatten geht.

Ich liebe Dich
weil ich verstehen will
worin Dein Ich besteht.

Ich liebe Dich
weil ich bereit zu geben
was in mir schreit und brennt
und möcht` mit Dir ein Leben
das keine Zwietracht kennt:

ein Zweisein
das man Vertrauen nennt.

(Wolfgang Schiele, 8.6.81)

Neben den umfangreichen Tagebüchern (die ich nun wieder vermehrt lese) fand ich auch eine Reihe von Bildern, die meine Phantasie außerordentlich emotional ansprechen und vielleicht das stärkste Mittel zur Regression in meine Vergangenheit sind. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte …

Und – wer mag – hier geht´s zur ersten Altersregression: https://wp.me/p7Pnay-3GJ – „Begegnung mit meinem jüngeren Ich“.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de