
Schon seit alters her haben die Menschen versucht, Konzepte über die jeweils aktuelle Welt aufzustellen und sich auf deren weitere Entwicklung einzustellen. Dazu haben sie die wesentlichen Strömungen und Umstände der jeweiligen Zeit analysiert und an den möglichen Auswirkungen gespiegelt. Und – wenn möglich – versuchten sie zugleich auch Strategien für den Umgang mit den aktuellen gesellschaftlichen Konstellationen zu entwickeln. Ein bekanntes Beschreibungs- und Erklärungsmodell ist VUCA, das als Akronym aus den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe volatility (Flüchtigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit) die wesentlichen Merkmale unserer Welt in der Zeit nach 1990 zu charakterisieren versuchte. Der Ursprung wird dem „United States Army War College“ zugeschrieben, das damit in den 90er Jahren die Prägemuster der Welt nach dem Ende des kalten Krieges beschreiben wollte. In Wahrheit taucht die Terminologie bereits 1986 in dem Managementberaterwerk „The Strategies for Taking Charge“ („Die Strategien zur Übernahme von Verantwortung“) eines gewissen Warren Bennis auf. [Wer mehr über VUCA erfahren möchte, siehe u. a. meinen Beitrag unter https://wp.me/p7Pnay-1DW – „Sind wir nicht alle ein bisschen vuka?“]
Für uns Menschen, die aus einer „SSEE„-Welt kommen, wirkt VUCA durchaus bedrohlich und gefährlich, treffen wir doch auf Herausforderungen, die wir bis dahin so gut wie gar nicht kannten. Die Älteren von uns sind in einer verhältnismäßig stabilen, sicheren, einfachen und eindeutigen Welt erzogen und groß geworden. Kurz gesagt: Die Dinge der Welt waren in ihren Abläufen weitgehend geordnet und stabil, verliefen nach bekannten Mustern und Regeln und waren planbar. Der Weltenlauf war zwar kompliziert, aber verständlich und durchschaubar und die wichtigsten Fragen konnten klar mit Ja oder Nein beantwortet werden. Psychologische Bedürfnisse konnten letztendlich befriedigt werden und persönliche Sehnsuchtsziele waren durchaus erreichbar.

Grafik: Wolfgang Schiele
Mit dem Übergang in die VUCA-Welt mussten persönliche „Überlebensstrategien“ her, um
der wachsenden Volatiliät (z. B. durch die Rasanz der technischen Entwicklung, Stichworte: Internet und Digitalisierung),
der Unsicherheit (z. B. durch die Veränderung der verschiedensten Märkte und Institutionen, Stichworte: Industrie 4.0, Globalisierung, Populismus …),
der Komplexität (z. B. durch Big Data, Cyberspace oder Blockchain-Technologien) und
der Ambiguität (infolge hochvernetzter sozialer Netzwerke und der Schwierigkeit, Meinungen von Fakten zu unterscheiden)
Schutzstrategien entgegenzusetzen.
Für das Individuum bestanden sie vorrangig in der Erhöhung der persönlichen und sozialen Resilienz, in der seelischen Ertüchtigung gegen Stress und Überforderung, der flexiblen und agilen Anpassung an die sich schnell verändernden Arbeits- und Lebensbedingungen sowie in einer permanenten Lernbereitschaft. Diesen Strauß an Abwehrmaßnahmen gegenüber VUKA fasste Ella Gabriele Amann unter dem Begriff des REAL-Modells (siehe Grafik) zusammen. In einer Landschaft, die von aufgabengesteuerten Systemen beherrscht und von einer Elite beaufsichtigt wird, ist das Anpassungsvermögen des Menschen und sein ständiges Training für eine hohe seelische Widerstandsfähigkeit der Königsweg, um zu überleben. Im gesellschaftlichen Kontext finden sich dagegen andere streitbare Strategiefelder, die man übrigens sehr anschaulich an die Anfangsbuchstaben des Ursprungsakronym VUCA anlehnen kann. Bezogen auf Unternehmen und Organisationen verwandeln sie sich in vision (Vision), understanding (Verstehen), clarity (Klarheit) und agility (Agilität).
Und nun kommt BANI! Nicht genug damit, dass wir noch mitten drin sind im Prozess des Ausgleichs, beim kräftezehrenden Versuch, die SSEE-Welt mit der VUCA-Welt in Resonanz zu bringen und in eine Koexistenz einzuschwenken. Wir treffen mit voller Wucht auf eine neue Welt, die sich immer weiter von uns zu entfremden droht. Sie kommt daher mit einer neuen Struktur, deren verschärfte Qualitäten völlig neue Anforderungen an die zukünftigen Bewältigungsstrategien stellen. Aus dem VUCA-Konzept wird der Entwurf einer BANI-Welt mit den Eigenschaften brittle (brüchig), anxious (ängstlich), nonlinear (nichtlinear) und incomprehensible (unbegreiflich).

Eingeführt wurde das neue Akronym durch den US-amerikanischen Autor und Futuristen Jamais Cascio, der erstmals 2020 in seinem Werk „Facing the Age of Chaos“ („Dem Chaos ins Auge blicken“) auftaucht. Bietet uns die VUCA-Welt eine gerade noch verständliche und nachvollziehbare Zustandsbeschreibung der aktuellen Vorgänge und Entwicklungen, so geht BANI einen entscheidenden Schritt weiter: es wirft einen Zukunftsblick auf die Folgen unseres Tun und Handelns auf dieser Welt. Die wenigen Ordnungsmerkmale der VUCA-Welt sind vom Tisch gefegt worden. BANI ist ein einziger großer Kohärenzverstoß: die Nichtverstehbarkeit des Geschehens um uns herum, die fehlende Handhabbarkeit im Umgang mit den Phänomenen der Gegenwart und Zukunft und die scheinbare Sinnlosigkeit der eingetretenen Entwicklung – all das überfordert uns und macht uns erst einmal starr und sprachlos. Das Maß der eingetretenen Störungen, der Grad der Zerrüttung der Welt und die konfusen Szenarien über die Zukunft der Menschheit benötigen einen neuen Sprachrahmen.
Brittle ist das neue volatil – Die Welt ist brüchig, spröde, porös, fragil, verletzlich. Wir müssen mit dem plötzlichen Einsturz von Systemen aller Art rechnen, mit Dominoeffekten und wellenförmigen Kaskaden der Unordnung infolge des Versagens einzelner Komponenten. Und all das ohne Vorwarnung. Beispiele sind der Zusammenbruch von Lieferketten, die Konfusion von Finanzsystemen, die Vernichtung von Monokulturen durch Schädlinge oder der Niedergang von Regierungen. Denn das Tückische am Brüchigen ist, dass man es ihm nicht ansieht. Es signalisiert bis zum Schluss perfektes Funktionieren und eine heile Welt. Der BANI-Welt fehlt die nötige Belastbarkeit und Elastizität, weil alle Komponenten zur Gewinnmaximierung bis an den Anschlag optimiert wurden und keine Spielräume mehr vorhanden sind. Nischen und Rettungswege fehlen, Bremswege und Parklücken sind für die überhitzten automativen Systeme nicht vorgesehen, Sollbruchstellen hat niemand eingerichtet.
Anxious – Angst als Antwort auf die Unsicherheit der VUCA-Welt – Angst ist eine lebensnotwendige Tugend, die Hüterin der Sicherheit, die uns im Verlauf der Menschwerdung vor existenziellen Verletzungen geschützt hat. Aber Angst kann auch zur Starre und Lähmung führen. Über die sozialen Plattformen strömen auf uns permanent Katastrophenmeldungen als Angstverstärker ein; durch Fake News, Desinformation und die Populisten dieser Welt haben wir ständig Furcht, wenn nicht sogar Panik vor eigenen Entscheidungen, die sich später als falsch herausstellen könnten. Positive Nachrichten sucht man in der Welt vergebens. Wir sind im anhaltenden Zustand der Sorge und Furchtsamkeit, wir sind verzweifelt und fühlen uns hilflos. Unser Evolutionsglaube schwindet und unsere Psyche wird durch die beständige Schreckensbeschallung zerfressen.
Non-linear – eine Steigerungsform der Komplexität. In ihr konnten noch Zusammenhänge rekonstruiert und zurückverfolgt werden. Die Nichtlinearität jedoch kennt keinen Zusammenhang mehr zwischen Ursache und Wirkung. Bei unseren Handlungen kommt es zu Verzögerungen zwischen Eingriff und Reaktion, das Mitwirken bisher unbekannter Komponenten beeinflusst in jäher Art und Weise die erwarteten Ergebnisse, exponentielle Veränderungen ziehen lawinenartig Folgeschäden an Menschen und Gütern nach sich, das Artensterben beschleunigt sich. Man denke nur an die Vorhersagen zum Klimawandel, denen wir immer noch nicht glauben wollen, weil uns der Augenblick des Kollapses zeitlich noch in viel zu ferner Zukunft erscheint. Oder die exorbitant hochschnellenden Infektionsraten durch die Omikronvariante, die sich binnen wenigen Tagen vervielfacht haben. Es kommt zu einem Paradoxon: Kleine Eingriffe und Aktionen haben in der BANI-Welt gewaltige Auswirkungen und große Anstrengungen zeitigen vorerst keinerlei Reaktion.
Incomprehensable – das Unbegreifliche tritt an die Stelle des Mehrdeutigen. Ereignisse um uns herum und Entscheidungen erscheinen uns unlogisch und absurd. Zu viele Daten sorgen für Konfusion; sie sind durch ihre schiere Menge kontraproduktiv und überfordern uns. Die ständig steigende Informationsflut ist wenig hilfreich. Künstliche Intelligenz entwirft selbst Algorithmen, deren Zweck und deren Auswirkungen uns immer unverständlicher werden. Unsere Vernunft und Logik kommen an ihre Grenzen, weil wir nicht mehr verstehen, warum Dinge, die eigentlich funktionieren sollten, es nicht tun und umgekehrt.

Aber was kann man in der BANI-Welt tun, um nicht unterzugehen? Es gibt für sie noch keine Best Practice! Welche Werkzeuge, Mittel und Methoden können wir nutzen oder ersinnen, um zu überleben? Dazu in einem weiteren Beitrag mehr … Bleiben Sie gespannt!
PS: Wer es mag: hier geht es zu Teil 2 meines Beitrages – https://wp.me/p7Pnay-3M5
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
14. Februar 2022 at 15:52
Danke, sehr interessant.
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