
Der Erwerbs-Lebens-Film ist endgültig im Kasten. Eigentlich sollte er bereits vor acht Jahren vollständig abgedreht sein – aber wie das Leben so spielt: Es gab einen Epilog. Einen Zuschlag zum längst abgeschlossenen, abhängigen Berufsleben als Ingenieur, dem ab 2014 ein unabhängiges, freitätiges (Vor-)Rentnerleben als Kommunikationstrainer, Resilienzcoach und Buchautor folgen sollte …
Verabschiedung von Ruhestandsanwärtern
Worum es ging: Meine Frau, die sich nun auch zu den Ausscheidenden aus dem Berufsleben zählen durfte (?), nahm eine Einladung zur Verabschiedungsfeier ihres Unternehmens an, dem auch ich aktiv bis zum Sommer 2014 angehörte. Ich nahm am Event unter der Kategorie „mitgeladener, begleitender Angehöriger“ teil. Und obwohl ich diese Form des Abschiedes als unoriginell und einfallslos für den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt betrachte (mehr über die Hintergründe kann man in meinem Buch „Rastlos im Beruf, ratlos im Ruhestand“ nachlesen), entschloss ich mich, das Ereignis als eine Chance einzuordnen. Eine Möglichkeit nämlich, mit teils noch bekannten – allerdings meist schon „namenlosen“ – Gesichtern ins Gespräch zu kommen und dabei die an die Oberfläche tretenden Motive der Wechsellust in den Ruhestand der Betroffenen zu hinterfragen.
Über Nachrufe und Deutungshoheiten
Die Veranstaltung war sehr opulent und reichhaltig angelegt. Zum Auftakt ein Sektempfang – fürs (Wieder-)Warmwerden (nach Corona) und fürs Erst-Kennenlernen (das Unternehmen ist eine Flächenversorger der Energiewirtschaft). Danach die obligatorische Rede des Vorstandsvorsitzenden, der sich bemühte, einen narrativen Bogen von den Zeitpunkten des Unternehmenseintrittes bis in unsere beispiellosen und konfusen Zeiten zu schlagen. Da er naturgemäß nicht wirklich einen persönlichen Bezug zu den Anwesenden herstellen konnte, machte er die ausgewählten geschichtlichen Daten an seinem eigenen Leben fest. Im Nachgang wurde er durch den Betriebsratsvorsitzenden für seine Rede überschwänglich gelobt – offensichtlich verfügt ein hochgestellter Arbeitnehmervertreter über eine unangreifbare und unwidersprechliche Deutungshoheit bezüglich der Worte seines Arbeitgeberchefs …

Das Programm ist alles
Das Abschiedsmahl (manch Zyniker mag auch Henkersmahlzeit dazu sagen …) war auf sehr hohem Niveau. Qualität und Quantität des Büfetts sagten den Teilnehmenden zu, was zu mannigfaltigen Vorbeimärschen an meinem Tisch führte, was mir die Wiedererkennung und Einordnung des früheren Kollegenkreises maßgeblich erleichterte. Auch ich verstand das Abschiedsessen als einen späten Nachschlag auf fast 40 Jahre im Angestelltenverhältnis und ließ es mir gründlich schmecken. In den drei Essenspausen traten zwei Berliner KünstlerInnen mit beeindruckender und frappierender Mentalmagie („mindreader mental magic“ – https://www.kuenstlervermittlung-berlin.com/artist/mindreader-mental-magic/) auf.
Wo endet das Gedankenlesen ?
Ja, wenn es denn tatsächlich ein geheimnisvolles Gedankenlesen gäbe – dann würde man wohl auch die wirklichen, im Untergrund schwelenden Herausforderungen, Bedenken und Zweifel herauslesen können, die sich mit dem Transformation vom Beruf in den Ruhestand ergeben. So blieb es in der Konversation bei den klischeehaften, aktuell im Vordergrund stehenden Problemlösungs-Gründen, wie Stress am Arbeitsplatz, Doppelbelastung durch Projektarbeit, körperbezogene Gesundheitseinschränkungen, Angst vor neu einzuführender IT …
Und wo beginnt die Wirklichkeit?
Kurz: Es herrschte mehrheitlich eine kritikfreie Freude, ja fast schon Euphorie über den nun eintretenden Ruhestand vor. Befragt nach ihren Zukunftsvorhaben nannten die Angesprochenen vorrangig die Enkelbetreuung, das Abschalten vom Arbeitsstress, das Kümmern um die eigene Gesundheit und anstehende Reparaturen am Haus. Was ich vermisste, waren die ganz persönlichen Ziele und Vorhaben, die Umsetzung (noch) nicht erfüllter Lebenswünsche und die intensivere Befassung mit dem eigenen Ich oder dem Ich des Partners. Nach meiner Erfahrung – und auch den Ergebnissen der soziologischen Forschung seit den 70er Jahren (z. B. Robert Atchley – „Sociology of Retirement“, 1976) – zeigt sich eine mögliche krisenhafte Entwicklung (der Fall in das berühmt-berüchtigte „tiefe Loch“) meist erst nach einem bis anderthalb Jahren.
Wunsch und Realität sind zwei verschiedene Dinge
Warum? Weil man im Alter(n) nicht langfristig genug denkt! Der frischgebackene Ruheständler verfolgt oft nur kurzfristige, sporadische Projekte. Obwohl er mit dem Beitritt in den Ruhestand statistisch gesehen noch etwa 20 Jahre Lebenszeit vor sich hat, begibt er sich in eine Vielzahl kleinerer Vorhaben, die oftmals nur Aktivismus auslösen, aber nicht wirklich zu Zufriedenheit und Gelassenheit führen. Auch ist z. B. die Enkelbetreuung einmal vorbei – Oma und Opa spielen bald keine große Rolle mehr, wenn die Nachwachsenden von der digitalen Welt vereinnahmt werden. Und die eigenen Kinder sind bereits so reif, dass sie sich den Argumenten der Altengeneration nicht mehr bedingungslos unterwerfen wollen.

Fazit und Ausblick
Acht Jahren nach dem vermeintlichen Schlussakkord nun auf diese Weise wieder Tuchfühlung mit seinem langjährigen Unternehmen aufzunehmen, das war schon ein Erlebnis der dritten Art. Denn eigentlich hatte ich seinerzeit den radikalen Bruch mit der verstrichenen Lebensphase vollzogen. Nun sind wieder Gedanken aufgestiegen über eine Zeit, in der ich mich selber finden musste, um dann anderen als Coach meine Erfahrungen, Einblicke und Erkenntnisse über eine der wichtigste Transformationsphasen des Lebens zu vermitteln. Aber vielleicht benötigt der eine oder die andere aus der abendlichen Runde ja auch noch meine konkrete Hilfe. Weil das Event zwar gesellig und lecker, aber eben keine wirkliche und hilfreiche Brücke in den Ruhestand schlug. Weil man es verpasst hat, den RentenanwärterInnen gute Tipps und Ideen als Startkapital für die Zeit der „Späten Freiheit“ mitzugeben …
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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