BILD Wertschätzung 2

Es mag Zufall sein, dass ich in diesen Tagen vermehrt mit Menschen in Kontakt komme, die im reifen Erwachsenenalter von 65, 70 oder 75 Jahren immer noch malochen, nicht vom früheren Job lassen können oder sich neuen, anspruchsvollen Aufgaben und Tätigkeiten widmen.

Loslassen von der Arbeit?!

Offenbar können sie nicht leben, glücklich werden oder einen Sinn im Leben finden, ohne vergleichbare Aktivitäten wie in ihrem ersten, primären Berufsleben. Sie schaffen weiter ohne Unterlass, arbeiten mindestens genauso intensiv wie in zurückliegenden Arbeitsjahren und benötigen die ziel- und ergebnisorientierte Beschäftigung wie die Luft zum Atmen. Manchmal sprechen mich die Kinder, zumeist die Töchter dieser Eltern an, weil sie ihre Erzeuger bei mir coachen lassen wollen, um ihnen den „rechten Weg“ in den Ruhestand aufzuzeigen und sie von immerwährender Arbeit, ständiger Aktivität und quirligem Tätigsein zu „befreien“.

Dabei könnte ein potenzieller Coachingauftrag beispielsweise lauten:
„Entziehen Sie ihm/ihr die (nach-)berufliche Tätigkeit, zeigen Sie ihr/ihm neue Ziele auf und bringen Sie ihn/sie dazu, das restliche Leben noch zu genießen!“

Geht dass überhaupt – als Coach meinen Klienten die „Droge Arbeit“ entziehen?
Und wenn es ginge: Wie lange muss man sie ausschleichen, damit kein Rückfall droht? Und: Kann das für mich überhaupt ein ernsthafter Coachingauftrag sein?

Die Frage ist erst einmal: Können oder wollen sie nicht loslassen von der Arbeit? Womöglich sogar vom langjährig ausgefüllten Beruf? Steckt hinter dem Drang oder der Sucht nach Arbeit eine Motivation, die dem Außenstehenden nicht auf den ersten Blick erkennbar wird? Was treibt diese Menschen an, sich nicht in den „Stand der Ruhe“ zu setzen und den Jahrzehnte alten Mustern von Umtriebigkeit und Arbeitszwang zu folgen?

Eine mögliche Ursache

Eine Antwort könnte sein: Für sie hat es den Tag X des Abschieds aus dem Berufsleben überhaupt nicht gegeben. Sie haben ihr tief verankertes Pflicht- und Verantwortungsgefühl aus dem Beruf uneingeschränkt mitgenommen.  Würden Sie nun im Ruhestand dagegen verstoßen, bekämen sie ein schlechtes Gewissen. Sie haben ihre Wertewelt, ihre Glaubenssätze und ihr soziales Rollenverständnis mit dem Übergang vom Beruf in den Ruhestand nicht an die neue Situation angepasst. Teilweise stecken sie noch immer in dem (Irr-?)Glauben, dass sie ihren eigenen Anforderungen und denen, die angeblich die Welt an sie stellt, nicht genügen würden. Sie befürchten nutzlos, wertlos und überflüssig für die Gesellschaft zu sein. Sie haben nicht losgelassen, weil ihnen keine ALTERnativen zur Verfügung standen oder weil sie eine Umstellung auf Ruhe-Stand schlicht und ergreifend als Verrat an sich selbst verstehen würden.

„Ich-Ferne“ und „Ich-Nähe“

Ich denke, dass es sich bei solchen Menschen unter anderem um „ICH-ferne“ Menschen handelt. Um gereifte Persönlichkeiten, die nach außen wirken wollen, denen die fachkundige Öffentlichkeit, das gesellschaftliche Umfeld und der permanente Kontakt zu anderen den entscheidenden Kick gibt. Sie wollen weiterhin hineinwirken in die sozialen Gruppen, denen sie sich immer noch eng verbunden fühlen. Und sie haben womöglich eines (noch) nicht gelernt: Eine nach innen gerichtete, auf das eigene Selbst zentrierte Wahrnehmung aufzubauen, mit sich selbst eins zu werden und das verstrichene Leben zu reflektieren. Vielfach sind sie der Ansicht, dass die Zeit dafür noch gar nicht gekommen ist und meinen, dass noch lange nicht Schluss sei. Oder anders gesagt: Für die eigene „Ich-Nähe“ sei noch kein Platz vorhanden und noch nicht die rechte Zeit angebrochen, in sich selbst zu ruhen. Trotzdem: An dieser Stelle empfehle ich mentales Relaxing als Kontrolle über den eigenen Geist, wie z. B. Yoga, Meditation oder auch Qigong. Sie fördern die Wahrnehmung des eigenen Körpers und können sehr hilfreich als Gesundheitsprävention oder Heilungsunterstützung sein.

BILD Wertschätzung 3

Eine weitere Hypothese

Im Beruf erhielten wir regelmäßig Rückmeldungen über unsere Arbeitsergebnisse: von den Mitkollegen, von Vorgesetzten, von Kunden, von Lieferanten … Abgesehen von einigen Ausnahmen erstarkte unser Ego regelmäßig an diesen Bewertungen. Viele von uns wurden sogar abhängig davon. Unser Gehirn giert auch nach dem Ende der Berufszeit weiterhin nach den Glücksmomenten, die vordem durch positive Rückmeldungen, Lob oder öffentliche Anerkennung ausgelöst wurden. Der Verantwortliche dafür befindet sich in unserem Kopf: Es ist der Nucleus accumbens, unser im Gehirn befindliches Belohnungszentrum, das in diesen Fällen das Glückshormon Dopamin ausschüttet. Dopamin führt dazu, dass wir uns besser fühlen und wir Lust, Freude und Zufriedenheit empfinden. Dieser Mechanismus wirkt nicht nur in jungen Jahren als Motivator, sondern auch noch im Alter.

Neue Betätigungsbereiche in Sicht?

Nur mal angenommen, es würde zu einem Coachingauftrag kommen. Dann müssten wir wohl gemeinsam etwas finden, das in seinem Ausmaß und seiner Intensität eine gleiche oder eine vergleichbare lustvolle und befriedigende Wirkung hinterlässt, wie die beruflichen Aktivitäten während der vorangegangenen Berufszeit. Nur eben auf einer anderen Ebene, in einer anderen Qualität und auf ein anderes Ziel ausgerichtet. Oftmals gelingt es, aus den verschütteten Träumen und Wünschen der Kinder- und Jugendzeit neue Aufgaben zu entwickeln. Die „Schatztruhe der Kindheit“ fördert oftmals zutage, was als Altersziel attraktiv und sinngebend sein kann. Findet man jedoch im Kontext des Coachings keine gleichwertigen Motivatoren in neuen Lebenswelten oder Betätigungsbereichen, dann sollte man besser nicht an der Fortführung der beruflichen Tätigkeit rühren.

Differenzierte Qualitäten 

Für mich gibt es verschiedene graduelle Abstufungen in der externen Bewertung der Tätigkeit von Senioren, (Un-)Ruheständlern und Rentnern. Sie können mehr oder weniger wirksam und nachhaltig sein. In jedem Fall wird sich aber ein individuelles, sehr differenziertes Lust- und Glücksgefühl einstellen, wenn der Betroffene ein derartiges, ehrliches Feedback erhält.  Für mich sieht diese „Feedback-Rangliste“ wie folgt aus:

  • Anklang, Kenntnisnahme und Beachtung
  • Zuwendung, Akzeptanz und Zuspruch
  • Achtung, Aufwertung und Geltung

  • Anerkennung, Renommee und Geschätztsein

  • (öffentliches) Ansehen, Reputation, Lob, Würdigung und Ehrung

  • Respekt, Bewunderung und Verehrung

  • Wertschätzung, Prestige, Ehre und Ruhm

  • Bedeutung

BILD Wertschätzung 1

Wie sagte schon der bekannte deutsche Psychiater Klaus Dörner:

„Jeder Mensch braucht seine Tagesdosis Bedeutung für andere.“

Was auch auch der Neuropsychologe Prof. Gerald Hüther unterstreicht: „Es muss bedeutsam sein …“. Sonst stellt die „neue Beschäftigung“ keinen vollwertigen Ersatz für die verlorene Reputation aus dem Berufsleben dar.

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele | Coaching50plus | https://coachingfiftyplus.de