Bereits Aristoteles wusste um die Bedeutung menschlicher Werte: um ihre ausschweifenden Übertreibungen und essentiellen Defizite, um ihren Mangel und ihr Übermaß. Schon ihm ging es um die Kontinuität der Werte, das Aufzeigen möglicher Entwicklungsrichtungen im Verhalten von Menschen, damit sie neue Handlungspielräume für sich entdecken und ausleben konnten …
Die Ethik der alten Griechen
Ausgehend von einer emotionalen Reaktion oder situativ spezifischem Handeln entwickelte die sog. Nikomachische Ethik jeweils positive und negative Polarisationen und Entwicklungsoptionen:
Weiterentwicklung der Tugenden zu neuzeitlichen Werten
Menschliche Qualitäten, so von Nicolai Hartmann im Jahre 1926 postuliert, können nur dann ihre volle konstruktive Wirkung entfalten, wenn sie sich in einem ausgehaltenen Spannungsverhältnis zu positiven Gegenwerten, den sog. „Schwesterntugenden”, befinden. Oder anders gesagt: Wenn sich das menschliche Verhaltensbild in einem Wertekontinuum, in einem Raum zwischen negativ und positiv besetzten Grenzwerten, bewegen kann. Dazu entwickelte er ein Wertequadrat, in dem die Beziehungen zwischen den verschiedenen Qualitäten aufgezeigt werden.
Auf der Suche nach den „optimalen Verhaltenswerten“
Matthias Varga von Kibed zum Beispiel analysiert das Modell noch weiter und stößt auf der Suche nach möglichen Entwicklungswegen auf die in den Mängelwerten enthaltenen „guten Anteile“ in den beiden Übertreibungen. Im Schnittpunkt der beiden Entwicklungsbestrebungen kann nun im besten Fall eine ausbalancierte Tugend, ein neuer ausgeglichener, optimaler Verhaltens-Zielwert, gefunden werden.
Aus der Fülle schöpfen
Schulz von Thun setzt die Tugenden des Aristoteles mit den modernen Werten unserer Zeit gleich. Ohne eine gewisse Balance zwischen den verschiedenen Werten könne der Mensch nicht aus seiner Fülle schöpfen. Es bestehe die Gefahr, dass ein Wert zu seiner entwerteten Übertreibung verkommt. Und das sowohl für den ursprünglichen positiven „Wert 1“ als auch für den bisher möglicherweise übersehenen positiven „Wert 2“, zwischen denen ein dialektischer Gegensatz besteht. Die ihnen entsprechenden (entwertenden) Übertreibungs-Werte stehen untereinander in einem entgegengesetzten Verhältnis und führen zu einer (wenig hilfreichen) Überkompensation.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Unternehmer beharrt auf der Eigenständigkeit seiner Entscheidungen, will sich nicht in seine Firma hineinreden lassen. Gleichzeitig muss er sich aber auch kooperativ im Umgang mit Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten zeigen, damit sein Unternehmen florieren kann. Übertreibt der Unternehmer sein Verständnis von Selbstständigkeit, dann wird er egoistisch und verstößt womöglich gegen Regeln und Gesetze. Kooperiert er nur noch mit seinen Partnern, dann läuft er Gefahr, von Dritten abhängig zu werden und zu viele Zugeständnisse machen zu müssen. Erst die Entdeckung der guten Seiten in den Übertreibungen führt im Schnittpunkt möglicher Entwicklungstendenzen zu einer „selbstbewussten Kooperation“, die eine Symbiose von Eigenständigkeit und Zusammenarbeit eingeht.
Das Wertequadrat der Einsamkeit im Alter
Was ein häufiges Problem im Alter(n) betrifft, ist die Einsamkeit. Einige Psychologen und Therapeuten sprechen schon heute von der Volkskrankheit Nummer 1, die da auf uns zukommt … Die Einsamkeit ist hier die „entwertende Übertreibung“ einer angestrebten Selbstverwirklichung in der dritten Lebensphase. Im Beispiel ist das unser Sehnsuchtsziel. Doch können wir uns ohne ein gewisses gesellschaftliches Engagement selbst verwirklichen …? So kann es zum Entstehen einer positiven Spannung zwischen der individuellen Selbstverwirklichungsabsicht und dem Streben nach gesellschaftlicher Teilhabe (hier in Form von einer oder von mehreren Gruppenzugehörigkeiten) kommen.
Nimmt die Intensität der Einsamkeit zu, dann kann das im gar nicht so seltenen Extremfall zu einer gesundheitlichen Störung – dem Gegenteil von Burn-out – führen: dem sog. „Bore-out-Syndrom“ (abgeleitet vom englischen Wort „boredom“ = Langeweile). Oder etwas volkstümlicher gesprochen: dem Rentnerblues. Die beiden negativ besetzten Werte beinhalten jedoch auch das „Gute im Mangel“ – sie können über ein verdecktes Wachstumspotenzial in Richtung der Selbstverwirklichung und in Bezug auf die Gruppenzugehörigkeit verfügen.
Im Idealfall kreuzen sich die Entwicklungstendenzen und im Schnittpunkt findet sich ein ausbalancierter Kompromisswert: die „exklusive (weil selbstbestimmbare) Netzwerkpflege“, die zum einen genug individuellen Freiraum lässt und zugleich die Integration in das aktuelle gesellschaftliche Umfeld garantiert.
Fazit
Es ist in der Tat Friedemann Schulz von Thun zu verdanken, dass sein Werte- und Entwicklungsquadrat zu neuen, im täglichen Leben nützlichen und ausgleichenden Wertvorstellungen führt. Es animiert zum Nachdenken über den Status quo der eigenen inneren und äußeren Wertewelt und kann im Krisenfall, z. B. durch begleitende Coachings, zu völlig neuen Lösungen führen. Auch und ganz besonders im (Un-)Ruhestand!
Ein weiteres, gegenläufiges (Un-)Ruhestandsbeispiel habe ich für einen meiner nächsten Blogbeträge vorgesehen. Bleiben Sie gespannt!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2018 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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