
Irvin Yalom – der wohl dienstälteste Psychotherapeut der Welt – hat in seinem Lebenswerk „Existenzielle Psychotherapie“ von den vier letzten Dingen oder Grundsorgen („basic concerns“) der Menschen geschrieben. Gerät die Waage zwischen zwei Antagonismen, wie z. B. den Qualitäten Sinn(suche) und Sinnlosigkeit, aus dem Gleichgewicht, kann das schwere seelische Verletzungen und psychische Störungen zur Folge haben. Das Konfliktpotenzial zum Thema Sinn nimmt mit zunehmendem Alter eher zu als ab …
Das Leben hat uns a priori keinen Sinn mit auf den Lebensweg gegeben. Unsere Bestimmung auf dieser Welt bleibt von Anbeginn im Dunkeln. Auch die Welt verhält sich uns gegenüber völlig wert- und sinnfrei. Würde die Menschheit aus diesem Universum verschwinden – es würde uns nicht vermissen und jeglicher Disput über den Sinn wäre völlig überflüssig. Wenn uns also mit unserem Start kein göttlicher oder ursprünglicher Sinnauftrag mitgegeben wurde, dann liegt es an uns, einen solchen zu finden. Alfred Längle, ein Wegbegleiter des Begründers der dritten Wiener Therapeutenschule sowie der Existenzanalyse und Logotherapie, Viktor E. Frankl, hat das einmal so ausgedrückt: „Sinn kommt durch die Welt an mich heran. Sein Ursprung stammt nicht von mir. Seine Erfüllung kann aber nur von mir kommen.“
Vielen Menschen, die sich im Ruhestand befinden, gehen mit schwindender Lebenszeit Gedanken über den Sinn des Lebens durch den Kopf. „Hatte meine berufliche Entwicklung einen tieferen Sinn, habe ich Spuren hinterlassen? War der gegangene Weg der richtige oder hätte es mehr Sinn gemacht, wenn ich auf eine andere Straße abgebogen wäre? Welche Bedeutung, welchen Zweck hat genau mein eingeschlagener Weg gehabt?“ Das sind Fragen nach der Sinnhaftigkeit einer (v)erlebten Vergangenheit. Und es kann sein, dass daneben auch Überlegungen mit Blick auf die Zukunft auftauchen, wie: „Gibt es noch eine unbewusste Mission, eine zu erfüllende Aufgabe, eine unerkannte Bestimmung im Leben? War das alles oder macht es Sinn, bisher Ungelebtes noch nachzuholen oder neu zu definieren? Und warum eigentlich fange ich nicht sogleich damit an, meinem Leben einen neuen, einen ganz persönlichen Eigensinn zu geben?“ Einen Sinn, der von dem abweicht, den man mir zu Berufszeiten überzustülpen versuchte, über den ich nicht selbst urteilen und befinden durfte …

Ich glaube, dass es an der Zeit ist, sich im fortgeschrittenen reifen Alter noch einmal ernsthaft die Frage zu stellen, wo wir herkommen, wer wir im Jetzt und Hier sind und wohin unsere Reise geht. Wir wären nicht zu dem geworden, der wir jetzt sind, wenn wir nicht gerade diesen einen Weg gegangen wären. Insofern hat uns bereits die Vergangenheit einen gewissen Sinnpfad vorgestreckt. Pflastern wir unsere Straße des Sinns mit alten wiederentdeckten und neu entwickelten Ideen, die wir in unserer „Späten Freiheit“ noch lustvoll verwirklichen können.
Der vorgenannte Viktor E. Frankl hat die drei Hauptstraßen zum Sinn wie folgt beschrieben: Die erste führt über die Erlebniswerte, zu dem, was uns an Gutem, Schönem und Wahrem in dieser Welt begegnen kann. Das mag ein entspannter Nachmittagsspaziergang sein, eine späte Altersliebe oder der Genuss eines außergewöhnlichen Kunstwerkes. Die zweite Hauptstraße geleitet uns zu den schöpferischen Werten dieser Welt: zu Dingen und Taten, die wir auf unserem Lebensweg für uns und andere geschaffen und vollbracht haben. Am Straßenrand entdecken wir die Gebäude, die wir errichtet und die Menschen, denen wir etwas mitgegeben haben im Leben. Und die dritte Straße eröffnet uns den Blick auf die Haltungswerte, denen wir uns verpflichtet fühlen. Sie haben es uns ermöglicht, all die positiven Emotionen zu genießen, aber auch die Verletzungen zu ertragen, die uns die Welt beschert hat. Ohne unsere offene Einstellung zu all den positiven und negativen Gefühlen, die ein Mensch erleben kann, wären wir nicht wirklich wir. Friedrich Nietzsche hat das einmal so ausgedrückt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“
Wer sagt uns, was richtig ist und was falsch? Wie deuten wir im reifen Alter unser Verhältnis zur Welt? Was macht zwischen Geburt und Tod den Sinn des Lebens aus? Die Antwort auf all dese Sinn-Fragen kann jeder nur für sich allein finden …
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele
Copyright Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
15. Mai 2019 at 7:55
Vielleicht helfen ja auch ein paar Altersweisheiten weiter:
https://autorenseite.wordpress.com/altersweisheiten/
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